Da Hildebrand Gurlitt, dessen wiederentdeckte Bilder nun schon seit Tagen grosse Aufregung verursachen, ein Spezialist für deutsche Avantgarde war, sind die meisten Werke in seiner Sammlung „entartete Kunst“, also solche, die in den deutschen Museen beschlagnahmt wurde. Wollen aber die Museen diese Werke zurück? Nicht sicher. Denn Werke, die er sich leisten konnte, sind höchstens «ganz gut», also eher Füllmaterial für Museumsdepots und Kunsthistoriker-Futter.
Hier mein Text aus der Sonntagszeitung
Am 6. Oktober 1952 geht beim Sammler Emil Bührle in Zürich eine schriftliche Anfrage ein. Ein gewisser Hildebrand Gurlitt möchte gerne die famose Sammlung des Industriellen besichtigen. Wenig später führt Bührles Sekretär den Deutschen durch die Zimmer an der Zürcher Zollikerstrasse. Zu einer Begegnung kommt es nicht. Die Anfrage bleibt wohlverwahrt im Archiv der Bührle-Stiftung.
Falls sich Hitlers Kunsthändler Gurlitt mit der Absicht trug, dem damals im grossen Stil einkaufenden Bührle eines der Werke aus seiner eigenen Sammlung anzubieten, muss ihn der Besuch in Zürich entmutigt haben. Denn eines wird ihm klar geworden sein: Keines seiner eigenen Werke kann den Grosssammler verlocken. Aussergewöhnliche Weltklasse, Bührles bevorzugtes Sammelgut, besitzt Gurlitt nicht.
Ebenfalls keinen geschäftlichen Kontakt mit Gurlitt hatte der in Zürich tätige Kunsthändler Walter Feilchenfeldt. Weder Hildebrand Gurlitt noch sein wunderlicher Sohn Cornelius hatten je versucht, dem Kunsthandel Feilchenfeldt Werke anzubieten. Mit gutem Grund, denn nach einem Blick auf die ihm unterbreitete Liste der Gurlitt-Werke stellt Sohn Feilchenfeldt lakonisch fest: «Ich würde mich um diese Liste nicht bemühen.» Und doppelt entschieden nach: «Kein Grund, ein Casino aufzumachen!»
Alle Zeichen weisen darauf hin, dass Milliardenerwartungen an die über sechzig Jahre in der Münchner Wohnung schlummernde Sammlung ins Reich der Märchen gehören. Die von der amerikanischen Spezialeinheit der Kunstretter (siehe Seite 38) angefertigte und hier abgebildete Liste der Gurlitt-Sammlung ist zwar nicht vollständig, doch gemeinsam mit den an der Pressekonferenz vom Dienstag in Augsburg gezeigten weiteren Bildern erlaubt sie eine Einschätzung des Sammlungscharakters: Ganz klar spielte Hildebrand Gurlitt nicht in der Topliga der Nazikunsthändler mit.
Zugang zur Raubkunst, aber nicht zu Meisterwerken
Hätten sich unter den in München gefundenen Bildern die berühmtesten der noch verschollen bleibenden Meisterwerke, wie etwa Franz Marcs «Der Turm der blauen Pferde», befunden, hätte sie die Augsburger Staatsanwaltschaft bestimmt an der Pressekonferenz gezeigt. Hat sie aber nicht. Die ebenfalls gezeigten «Pferde in der Landschaft» von Marc scheinen also das wertvollste Bild der Gurlitt-Sammlung zu sein, sein Verkaufswert wird auf 45 Millionen Euro geschätzt. Danach folgt das Porträt der sitzenden Frau von Matisse, welches offenbar aus dem von den Nazis geplünderten Pariser Banksafe des Kunsthändlers Paul Rosenberg stammt und ca. 10 Millionen Euro wert sein dürfte. Die Nachfahren Rosenbergs haben bereits ihre Besitzansprüche angemeldet.
Nur ausnahmsweise scheint es dem bereits vor dem Krieg von den Nazis angefeindeten Museumsdirektor Gurlitt gelungen zu sein, seine im Dienste Hitlers schmutzig gewordenen Hände auf Meisterwerke zu legen. Dennoch hatte er bei seinen Reisen nach Paris Zugang zu Raubkunst. Aus Frankreich stammen möglicherweise seine alten Meister (etwa Guardi, Listennummer 1937/11, Fragonard, Listennummer 1957/5, oder Jacob Ruisdael, Listennummer 1974/3, sowie der an der Pressekonferenz gezeigte Canaletto). Diese Werke erzielen heute ebenfalls Millionenpreise.
Raubkunst-verdächtig, also zu jener Kunst gehörend, die von den deutschen Stellen im Ausland beschlagnahmt worden ist, sind auch die Werke von Edgar Degas (Listennummer 1951/2 und 1951/3), die unbekannte Chagall-Gouache (2004/4) und die in Augsburg gezeigten Bilder von Matisse und Courbet. Weitere Nachforschungen verlangt die Listennummer 2004/5: Von den «Monuments Men» zunächst als «German, 20th. Century» bezeichnet, entpuppt sich das Werk später als die «Frau mit zwei Nasen» von Picasso. Davon sprechen die US-Akten.
Überhaupt gehört die Kunst, welche zu Hitlers Zeit in Bedrängnis geriet, zu den bestdokumentierten Kapiteln der jüngsten Kunstgeschichte. Umso unverständlicher erscheint in diesem Licht die Tatsache, dass die mit der Sammlungssichtung betraute Kunsthistorikerin Meike Hoffmann nach anderthalb Jahren Beschäftigung zu gar keinen Resultaten in ihren Nachforschungen gekommen sein soll.
Nun läuft die ganze Welt gegen Deutschland Sturm
Eine erste grobe Sortierung wäre bereits in den ersten Monaten möglich gewesen. Neben der Raubkunst, die dank der vorbildlichen Datenbank Looted Art identifiziert werden kann, hätten noch die Kategorien «Fluchtkunst», «entartete Kunst» und «zwangsveräusserte Kunst» berücksichtigt werden müssen.
Nur: Fluchtkunst hatte Hildebrand Gurlitt keine. Denn es handelt sich dabei um Kunst, die aus Deutschland ausgeführt und von Privaten im Ausland verkauft worden ist, oft um ihre Amerika-Überfahrt zu finanzieren. Als Käufer solcher Werke kam der Nazihandlanger Gurlitt nicht infrage. «Keiner, der mit einem Picasso über die Grenze gekommen war, ging damit zu Gurlitt», sagt ein Kenner der Verhältnisse.
Ebenfalls schnell identifiziert müsste die «entartete Kunst» sein, also Werke, die in einem gross angelegten Raubzug durch deutsche Museen von den Nazis beschlagnahmt und im Ausland versilbert wurden. Bei dieser Aktion dürfte Hildebrand Gurlitt eine besondere Rolle zugekommen sein, denn der ehemalige Museumsdirektor aus Zwickau liebte die Werke der deutschen Avantgarde. Es sind wohl seine Insiderkenntnisse, die es ihm erlaubten, trotz seiner nicht ganz arischen Herkunft sich im Tross von Hitlers Käufern und Wiederverkäufern zu behaupten. Aber auch hier: Die Topwerke bekam er nicht. All die Mackes, Grosz, Dix, Noldes, Liebermanns, Rohlfs, Schmidt-Rotluffs und Pechsteins auf der Liste scheinen gute, doch nicht herausragende Werke zu sein. Was die Amerikaner als «painting» bezeichnen, ist oft eine Arbeit auf Papier. Wie jenes kolorierte druckgrafische Mädchenporträt von Ernst Ludwig Kirchner, von dem Meike Hoffmann an der Pressekonferenz schwärmte.
Dass allerdings Frau Hoffmann nach all der Zeit nicht imstande war, wenigstens eine Liste der «entarteten Kunst» aus der Gurlitt-Sammlung vorzulegen, ist ein Skandal. Denn niemand anderer als sie selbst führt an der Freien Universität Berlin die entsprechende Forschungsstelle, inklusive einer Datenbank. Ihr Spruch, dass sie mittlerweile «500 Werke anrecherchiert hat», dürfte als ein unfreiwilliger Witz in die Geschichte der Restitutionsforschung eingehen.
Es mag sein, dass die Augsburger Staatsanwaltschaft von der «Focus»-Veröffentlichung überrumpelt worden ist. Doch den darauf folgenden kommunikativen Unfall hat sie ganz allein sich selbst zuzuschreiben. Denn nun läuft die ganze Welt gegen Deutschland Sturm. Kanzlerin Angela Merkel muss sich um den Zwischenfall kümmern, man ruft nach einem internationalen Kunsttribunal.
Das alles wäre nicht nötig gewesen, hätte sich das Team von Meike Hoffmann schnell um die Kategorie «zwangsveräusserte Kunst» gekümmert, also um die Kunst, die in Not und Gefahr zu billig verkauft wurde. Diese ist, zugegebenermassen, die schwierigste unter den heiklen Kategorien. Doch es gibt auch hier viel Hilfsmaterial. Im Fall des inzwischen von den Erben David Friedmanns reklamierten Reiterbildes von Max Liebermann (Listennummer 1930, Bild Seite 37) wäre der Zugang von zwei Seiten möglich gewesen: Erstens war das Bild auf dem Suchportal Lost Art angemeldet. Und zweitens steht im Werkkatalog des Malers Liebermann die Besitzfolge des Bildes schwarz auf weiss: zuerst David Friedmann, Breslau. Danach Hildebrand Gurlitt, Hamburg.
© SonntagsZeitung, 10. November 2013