Verfluchtes Katyn

Noch ist Polen nicht verloren, heisst es in der Hymne des Landes, in dem ich geboren bin. Aus dem Vers spricht purer Trotz angesichts der schwierigen geopolitischen Lage und des ständig drohenden Untergangs. Doch der Vers drückt auch eine Haltung aus, die eines dramatisierten Umgangs mit der eigenen Geschichte. In Polen sind Symbole nicht einfach Symbole. Sondern politische Tatsachen.

In meiner neuen Heimat, der Schweiz, stehen symbolische Gesten dagegen schwer unter Verdacht. Wenn einer grosse Sprüche klopft oder Erde küsst, wie der polnische Papst es tat, denken sich viele: Da ist etwas faul. Was will denn der hinter dem symbolischen Rauchvorhang verstecken? Doch Polen hat dieses Konzept der Symbolik, welche die «Herzen stärker macht». So drückte es der polnische Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz aus. Er selbst schrieb zur Stärkung der Herzen am Ende des 19. Jahrhunderts Romane, welche den Mut der Polen angesichts historischer Bedrohungen lobten. Das alles ging mir schon durch den Kopf, als ich vor Jahren Andrzej Wajdas Film «Katyn» zusammen mit meiner Mutter schaute. Ich fand den Film nicht wirklich gut, zu schematisch, zu programmatisch spulte der einst so geniale Regisseur die Handlung ab, die in der historischen Tragödie gipfelte: die durch Stalin befohlene Ermordung polnischer Offiziere und das anschliessende Totschweigen des Verbrechens. Doch an der Reaktion meiner Mutter sah ich – die schiere Kraft der Tatsache, dass es einen Film namens «Katyn» gab, hatte eine überwältigende, reale Bedeutung.

Und jetzt, in der gegenwärtigen Tragödie von Katyn, schlägt diese Kraft der symbole in erschreckender Weise zu. Um nach Katyn zu gelangen, mussten die Polen eine mythische Grenze überqueren, die dicker war als die dickste Mauer. Damit das gelang, nahmen sie ihre wichtigste politische Waffe zu Hilfe: die Symbolik. Ein Flugzeug voll von Patrioten sollte in Katyn ankommen. Furchtlose Piloten sollten unter widrigsten Bedingungen Wunderlandungen hinlegen. Ein triumphaler Ausstieg aus dem Luftfahrzeug sollte ein Bild für Geschichtsbücher abgeben.

Es ging schief. Die Opfer, die Trauer, das politische Chaos im Land ohne Regierung – die symbolische Erstürmung der Mythengrenze hat einen allzu hohen Preis. Doch die Grenze ist überquert. Katyn hat endlich seinen Platz auf der historischen Weltkarte gefunden.

Andrzej Wajdas Film «Katyn» gibt es auf DVD

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