In Rio de Janeiro erwacht eine neue Kunstszene – anlässlich einer Reise im Zusammenhang mit der bevorstehenden Eröffnung der Casa Daros im Quartier Botafogo habe ich mich mal unter dem Zuckerhut umgesehen.
Foto: Fred Merz/Rezo
Rio ist eine Schleuder. Das behauptet der Künstler José Bechara. Und er muss es wissen, denn er schaut täglich von oben auf seine Heimatstadt. Auf der Terrasse seines Ateliers im Villenviertel Santa Teresa breitet er Leinwände vor uns aus. Eine tropisch verschleierte Sonne legt sich derweil zu Füssen des Zuckerhuts schlafen.
«Die lateinamerikanische Kunst», sagt José und unterstreicht die Aussage mit einer dezidierten Bewegung seiner kubanischen Zigarre, «wird von Rio aus die Welt erobern.» Denn nur von hier aus fliegen Ideen mit Zentrifugalkraft in die Welt – wie einst der entspannte Rhythmus des Bossa nova. Darum sei es klug von den Schweizern, mit ihrer Casa Daros nach Rio zu kommen.
Bechara selbst ist ein cooler Typ mit Dächlikappe und rauer Stimme. Jeder seiner Sätze klingt wie ein Sprichwort. «Geld kommt nach Rio wegen seiner Ölfelder», sagt er etwa, «Künstler aber kommen nach Rio, weil diese Stadt bereit ist, sich zu verschwenden.» Obwohl keines seiner eigenen Werke von Daros Latinamerica angekauft wurde, ist er auf die Sammlung gut zu sprechen. Er ist überzeugt, dass es ein Fehler der Kunstszene war, die Gründung eines Ablegers des Guggenheim-Musems in Rio, damals 2003, durch Proteste zu verhindern. «Abwehr», sagt er, «ist eine so altmodische Idee.»
«Ist der Umbau der Casa Daros endlich fertig?», will Bechara jetzt wissen. Ein Schaufenster für Kunst verschiedener lateinamerikanischer Länder in Rio einzurichten, hält er für eine grossartige Idee. Fügt aber nach einigem Nachdenken hinzu: «Falls es funktioniert.»
Der Nachsatz ist berechtigt. Die Kunstszene Rios ist bisher eine recht überschaubare Gemeinschaft. Sie organisiert sich rund um das Museu de Arte Moderna (MAM Rio), einer von Brasiliens grossartig kühlen, modernistischen Betonbauten im Quartier Flamengo unten am Meer. Mit seinen 200 000 Eintritten pro Jahr erlaubt das Beispiel des Museums keine brillante Prognose für die hochfliegenden Daros-Pläne, die mit dem Potenzial einer kunsthungrigen Sechs-Millionen-Metropole rechnen. Dass aber Kunst, Geld und Macht in Rio gerade anfangen, Gefallen aneinander zu finden, das lässt sich beim Besuch im Haus auf Betonpfeilern nicht übersehen.
Der Enkel des Medienmoguls buhlt um Museumssponsoren
Der Aufsichtsrat-Präsident des Museums, Carlos Alberto Gouvea Chateaubriand, empfängt seine Besucher im Restaurant im ersten Stock. Sein Grossvater, Francisco de Assis Chateaubriand, war einer der einflussreichsten Männer des Landes, ein gefürchteter Medienmogul der Nachkriegsjahre, der als «brasilianischer Citizen Kane» in die Geschichte einging. Im neuen, um eine vorzeigbare politische Korrektheit bemühten Brasilien von heute steht sein Name für alles, das es zwar noch gibt, aber nicht mehr geben sollte: Erpressung, Korruption, Bereicherung durch Macht. Den Namen von Napoleons Botschafter Chateaubriand hat der damalige Emporkömmling aus Nordostbrasilien als Jüngling für sich usurpiert – er ist in der Familie geblieben.
Das nach dem gleichen Mann benannte Stück Fleisch wird im Museumsrestaurant Laguiole nicht serviert, dafür ein hauchzarter Blanc manger aux truffes. Wenn man die Vorspeise lobt, ruft der Präsident mit einem Fingerschnippen den Koch, der im perfekten Französisch das Rezept verrät.
Alles hier ist darauf ausgerichtet, die Reichen und die Einflussreichen zu verwöhnen. Denn sie sollen zahlen – Staatssubventionen für Museen stehen im Boomland Brasilien nicht zuvorderst auf der politischen Agenda. Weder das MAM Rio noch das auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht gelegene, von Brasília-Planer Oscar Niemeyer erbaute Museu de Arte Contamporânea de Niteroi, erhalten Budget-Zuwendungen. Für jede Ausgabe muss ein Sponsor her. Der zerschlissene Spannteppich im Innern des in jedem Touristenführer als Weltwunder gepriesenen Niemeyer-Baus in Niteroi erzählt von diesen Zuständen.
Da hat es das MAM Rio besser. «Ich weiss, wie man mit diesen Leuten spricht, damit sie uns Geld geben», sagt der Enkel des Medienzaren und prostet dem Telenovela-Produzent Luiz Barreto zu, der gerade hereinkommt. Grossvater Chateaubriand pflegte die Industriemagnaten seiner Zeit zu erpressen, um Modiglianis, Tizians und Picassos fürs Museum in Sa?o Paulo zu kaufen.
Heute undenkbar – und doch wecken diese ältere Herren in hellen Anzügen, die im Museumsrestaurant ein- und ausgehen, einschlägige Mafiafilm-Klischees. «Wie geht es der Tochter, Mario?», «Setzt dich zu uns, Paulo»: – damit sind der mächtige Chairman des Energieunternehmens Enel Endesa, Mario Santos, oder der CEO des Elektrizitätsgiganten Light, Paulo Roberto Pinto, gemeint.
Einander in ihrer weichen Sprache Witzchen und Koseworte zurufend, kontrastieren diese Patriarchen mit den kargen Räumen des Museums, wo einst, in den 60er- und 70er-Jahren, zur Zeit der Militärdiktatur, Oppositionelle zusammenkamen «um zu besprechen, was getan werden musste und wer gerade verhaftet worden ist» – wie uns der Künstler Antonio Dias erzählt.
Dias ist der Doyen der Kunstszene in Rio. Vor der Verfolgung des Militärregimes flüchtete er nach Europa, lebte lange in Mailand. Er ist jetzt 69 Jahre alt und krank. Er hat sich ein Auge verletzt, bei der Behandlung wurde Krebs diagnostiziert. Vor zwei Jahren kam er zurück, nach Hause, um hier wieder heil zu werden. Er ist der Meister Yoda von Rios Kunstszene, ein Weiser, der in Rätseln spricht. Die um Jahrzehnte jüngere italienische Frau Paola und Tochter Nina gehen im Haus umher, schwatzend, rauchend, Getränke schlürfend.
Die Kunstvermittlungskurse in der Favela laufen schon
Dias ist ein typischer Daros-Künstler. In der von Ruth Schmidheiny und Hans-Michael Herzog angelegten Sammlung lateinamerikanischer Kunst ist diese Generation bisher am stärksten vertreten. Die ganz jungen Künstler sind den bedächtigen Einkäufern oft noch nicht «reif» genug, haben die Probe der Zeit noch nicht bestanden. Die Werke älterer Künstler, etwa der beiden Säulenheiligen der brasilianischen Moderne, Helio Oiticica oder Lygia Clark, waren im Jahr 2000, als Daros Latinamerica anfing, bereits sehr teuer. «Dennoch», erklärt Hans-Michael Herzog, «konnten wir uns einige wichtige Positionen dieser Künstler sichern.»
Auf die Frage nach der Bedeutung der kommenden Eröffnung der Casa Daros für Rio antwortet Antonio Dias gewohnt vage – ja, das Kulturhaus sei wichtig. Er würde sich wünschen, dass dort eine Kunstzeitschrift initiiert werde. Er vermisse ein Forum. «Die Daros-Leute setzen schon jetzt Standards», gleicht Paola freundlich die nicht gerade überbordende Begeisterung ihres wortkargen Mannes aus. Standards der Kunstvermittlung? «Bis jetzt vor allem der Denkmalrenovation», erklärt die Mailänderin höflich.
In der Tat. Die schier endlosen Fluchten leerer Räume, blitzblank, mit einem geschmackvoll hellen Holzboden versehen und mit aller für ein modernes Museum notwendigen Struktur ausgestattet, wirken bei einem Besuch in der noch leeren Casa Daros ein wenig einschüchternd. Bei einem kurzen Blick in die «Phase 3» genannten, noch unrenovierten Teile des grossen Gebäudes klettert die Fantasie schneller die schäbigen Wände hoch, nistet sich im wurmzerfressenen Holz der alten Böden ein.
Aber schon laufen die ersten Daros-Kunstvermittlungs-Kurse in der Favela Dona Marta. Die Kids aus den Slums, eher als die Oberschicht, seien die anvisierte Daros-Klientel – dessen ist sich Herzog sicher. Der kubanische Vermittlungsprogramm-Leiter Eugenio Figueroa zeigt dazu eine Reihe leicht verwischter Aufnahmen von Strassenszenen. Fotografiert wurde mit einer grossen Camera obscura. Es sei toll gewesen, bei den an Schnappschuss-Ästhetik gewohnten Jungs und Mädels den Sinn für die archaische Fotografie zu wecken.
Doch Rios Favelas und seine reichen Quartiere bilden ein System miteinander verbundener Gefässe. Das zeigt sich am gleichen Abend noch, an der Vernissage von Adriana Vareja’o, einem Superstar des brasilianischen Kunstbetriebs. Vareja’o, eine Magazin-Schönheit mit dunkler Lockenmähne, war bis 2010 mit dem Sammler und Minenmagnaten Bernardo Paz verheiratet, dessen sechste Exfrau sie nun ist. Ihr Pavillon in Paz extravagantem Freiluftmuseum Inhotim bei Belo Horizonte, einem begehrten Reiseziel westlicher Kuratoren, hat dazu beigetragen, dass ihr Stil weltweit bekannt wurde. Ihr Markenzeichen: sauber gekachelte Räume in Verbindung mit blutrünstigen Fantasien postkolonialer Rache. Ihre Werke, die nun in den Sammlungen von Tate Modern bis MoMA nicht fehlen, erreichen Preise bis 1,2 Millionen Dollar. In den Beständen von Daros Latinamerica fehlen sie gänzlich – zu modisch.
Umringt von einer Menschentraube aus Honoratioren, führt Vareja?o, im blutroten Kleid und leicht schwankend auf hohen Absätzen, den mächtigsten Mann im Staate durch die Schau im MAM Rio: den Gouverneur Sergio Cabral. Seit 2007 im Amt, gilt der Gouverneur einhellig als der erste gute Verwalter des Gliedstaates Rio de Janeiro seit einem Vierteljahrhundert.
Nach Dekaden von Schulden und Skandalen hat er mit einer Mischung aus geschicktem Taktieren und starker Hand die Stadt Rio zu dem Ort gemacht, der heute der Austragung der Fussball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 entgegenfiebern kann.
Seine zuweilen auch brutalen Polizeitruppen «Unidade de Polícia Pacificadora» haben den von Drogenbossen beherrschten Favelas wie Dona Marta oder Rocinha Entspannung gebracht. In der Nähe der Zona Sul, also der berühmten Strände Ipanema und Copacabana, entstand dadurch ein Novum: Favelas, in welchen Kinder Kreativkurse besuchen und die Armut den Touristengruppen von ihrer pittoresken Seite vorgeführt werden kann.
Eine ihrer bekanntesten ist Vigidal. Nur langsam kämpft sich hier das Fahrzeug die steile Strasse hoch, vorbei an Menschen, die Hälften von frisch geschlachteten Schweinen und Bierkisten auf den Schultern tragen. Die Gentrifzierung hat bereits angefangen. Ihre ersten Boten, die Betonmischer, bedienen Baustellen von Hotels und Villen.
Mit wütender Wucht schleudert ein Junge den Monolog heraus
Die Kulturvergangenheit von Vigidal reicht bis in die 80er-Jahre zurück. Viele Schauspieler für Fernando Meireles Oscar-nominierten Film «City of God» kamen von hier. Talentscouts besuchen regelmässig die Strassenvorstellungen auf dem Hügel.
Ein dunkelhäutiger Junge springt auf die improvisierte Bühne. Mit wütender Wucht schleudert er einen Monolog heraus: Es ist die Geschichte eines jungen Schwarzen, dem die Mutter eingebläut hat, immer nur brav zu lächeln. Die weissen Zähne des jungen Schauspielers springen fast aus seinem Gesicht heraus. Man versteht, auch ohne des Portugiesischen mächtig zu sein: «Carranca», die starre Grinsfratze, erstickt in ihm jede Freiheitsregung.
Wie hiess doch das Fotoprojekt der Casa Daros? «Metamorphose», die Veränderung. Allzu lang hat Rio, die Strandschöne Brasiliens immer nur gelächelt. In dem sich langsam ausbreitenden Wohlstand verschwindet die starre Lachfratze, die Stadt erwacht und drängt auf die Weltbühne. Und das mit Lust. Denn Abwehr, wie uns Freund Bechara eingebläut hat, ist so was von gestern.
Publiziert am 03.02.2013
ich dort.
Rio ist eine Schleuder. Das behauptet der Künstler José Bechara. Und er muss es wissen, denn er schaut täglich von oben auf seine Heimatstadt. Auf der Terrasse seines Ateliers im Villenviertel Santa Teresa breitet er Leinwände vor uns aus. Eine tropisch verschleierte Sonne legt sich derweil zu Füssen des Zuckerhuts schlafen.
«Die lateinamerikanische Kunst», sagt José und unterstreicht die Aussage mit einer dezidierten Bewegung seiner kubanischen Zigarre, «wird von Rio aus die Welt erobern.» Denn nur von hier aus fliegen Ideen mit Zentrifugalkraft in die Welt – wie einst der entspannte Rhythmus des Bossa nova. Darum sei es klug von den Schweizern, mit ihrer Casa Daros nach Rio zu kommen.
Bechara selbst ist ein cooler Typ mit Dächlikappe und rauer Stimme. Jeder seiner Sätze klingt wie ein Sprichwort. «Geld kommt nach Rio wegen seiner Ölfelder», sagt er etwa, «Künstler aber kommen nach Rio, weil diese Stadt bereit ist, sich zu verschwenden.» Obwohl keines seiner eigenen Werke von Daros Latinamerica angekauft wurde, ist er auf die Sammlung gut zu sprechen. Er ist überzeugt, dass es ein Fehler der Kunstszene war, die Gründung eines Ablegers des Guggenheim-Musems in Rio, damals 2003, durch Proteste zu verhindern. «Abwehr», sagt er, «ist eine so altmodische Idee.»
«Ist der Umbau der Casa Daros endlich fertig?», will Bechara jetzt wissen. Ein Schaufenster für Kunst verschiedener lateinamerikanischer Länder in Rio einzurichten, hält er für eine grossartige Idee. Fügt aber nach einigem Nachdenken hinzu: «Falls es funktioniert.»
Der Nachsatz ist berechtigt. Die Kunstszene Rios ist bisher eine recht überschaubare Gemeinschaft. Sie organisiert sich rund um das Museu de Arte Moderna (MAM Rio), einer von Brasiliens grossartig kühlen, modernistischen Betonbauten im Quartier Flamengo unten am Meer. Mit seinen 200 000 Eintritten pro Jahr erlaubt das Beispiel des Museums keine brillante Prognose für die hochfliegenden Daros-Pläne, die mit dem Potenzial einer kunsthungrigen Sechs-Millionen-Metropole rechnen. Dass aber Kunst, Geld und Macht in Rio gerade anfangen, Gefallen aneinander zu finden, das lässt sich beim Besuch im Haus auf Betonpfeilern nicht übersehen.
Der Enkel des Medienmoguls buhlt um Museumssponsoren
Der Aufsichtsrat-Präsident des Museums, Carlos Alberto Gouvea Chateaubriand, empfängt seine Besucher im Restaurant im ersten Stock. Sein Grossvater, Francisco de Assis Chateaubriand, war einer der einflussreichsten Männer des Landes, ein gefürchteter Medienmogul der Nachkriegsjahre, der als «brasilianischer Citizen Kane» in die Geschichte einging. Im neuen, um eine vorzeigbare politische Korrektheit bemühten Brasilien von heute steht sein Name für alles, das es zwar noch gibt, aber nicht mehr geben sollte: Erpressung, Korruption, Bereicherung durch Macht. Den Namen von Napoleons Botschafter Chateaubriand hat der damalige Emporkömmling aus Nordostbrasilien als Jüngling für sich usurpiert – er ist in der Familie geblieben.
Das nach dem gleichen Mann benannte Stück Fleisch wird im Museumsrestaurant Laguiole nicht serviert, dafür ein hauchzarter Blanc manger aux truffes. Wenn man die Vorspeise lobt, ruft der Präsident mit einem Fingerschnippen den Koch, der im perfekten Französisch das Rezept verrät.
Alles hier ist darauf ausgerichtet, die Reichen und die Einflussreichen zu verwöhnen. Denn sie sollen zahlen – Staatssubventionen für Museen stehen im Boomland Brasilien nicht zuvorderst auf der politischen Agenda. Weder das MAM Rio noch das auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht gelegene, von Brasília-Planer Oscar Niemeyer erbaute Museu de Arte Contamporânea de Niteroi, erhalten Budget-Zuwendungen. Für jede Ausgabe muss ein Sponsor her. Der zerschlissene Spannteppich im Innern des in jedem Touristenführer als Weltwunder gepriesenen Niemeyer-Baus in Niteroi erzählt von diesen Zuständen.
Da hat es das MAM Rio besser. «Ich weiss, wie man mit diesen Leuten spricht, damit sie uns Geld geben», sagt der Enkel des Medienzaren und prostet dem Telenovela-Produzent Luiz Barreto zu, der gerade hereinkommt. Grossvater Chateaubriand pflegte die Industriemagnaten seiner Zeit zu erpressen, um Modiglianis, Tizians und Picassos fürs Museum in Sa?o Paulo zu kaufen.
Heute undenkbar – und doch wecken diese ältere Herren in hellen Anzügen, die im Museumsrestaurant ein- und ausgehen, einschlägige Mafiafilm-Klischees. «Wie geht es der Tochter, Mario?», «Setzt dich zu uns, Paulo»: – damit sind der mächtige Chairman des Energieunternehmens Enel Endesa, Mario Santos, oder der CEO des Elektrizitätsgiganten Light, Paulo Roberto Pinto, gemeint.
Einander in ihrer weichen Sprache Witzchen und Koseworte zurufend, kontrastieren diese Patriarchen mit den kargen Räumen des Museums, wo einst, in den 60er- und 70er-Jahren, zur Zeit der Militärdiktatur, Oppositionelle zusammenkamen «um zu besprechen, was getan werden musste und wer gerade verhaftet worden ist» – wie uns der Künstler Antonio Dias erzählt.
Dias ist der Doyen der Kunstszene in Rio. Vor der Verfolgung des Militärregimes flüchtete er nach Europa, lebte lange in Mailand. Er ist jetzt 69 Jahre alt und krank. Er hat sich ein Auge verletzt, bei der Behandlung wurde Krebs diagnostiziert. Vor zwei Jahren kam er zurück, nach Hause, um hier wieder heil zu werden. Er ist der Meister Yoda von Rios Kunstszene, ein Weiser, der in Rätseln spricht. Die um Jahrzehnte jüngere italienische Frau Paola und Tochter Nina gehen im Haus umher, schwatzend, rauchend, Getränke schlürfend.
Die Kunstvermittlungskurse in der Favela laufen schon
Dias ist ein typischer Daros-Künstler. In der von Ruth Schmidheiny und Hans-Michael Herzog angelegten Sammlung lateinamerikanischer Kunst ist diese Generation bisher am stärksten vertreten. Die ganz jungen Künstler sind den bedächtigen Einkäufern oft noch nicht «reif» genug, haben die Probe der Zeit noch nicht bestanden. Die Werke älterer Künstler, etwa der beiden Säulenheiligen der brasilianischen Moderne, Helio Oiticica oder Lygia Clark, waren im Jahr 2000, als Daros Latinamerica anfing, bereits sehr teuer. «Dennoch», erklärt Hans-Michael Herzog, «konnten wir uns einige wichtige Positionen dieser Künstler sichern.»
Auf die Frage nach der Bedeutung der kommenden Eröffnung der Casa Daros für Rio antwortet Antonio Dias gewohnt vage – ja, das Kulturhaus sei wichtig. Er würde sich wünschen, dass dort eine Kunstzeitschrift initiiert werde. Er vermisse ein Forum. «Die Daros-Leute setzen schon jetzt Standards», gleicht Paola freundlich die nicht gerade überbordende Begeisterung ihres wortkargen Mannes aus. Standards der Kunstvermittlung? «Bis jetzt vor allem der Denkmalrenovation», erklärt die Mailänderin höflich.
In der Tat. Die schier endlosen Fluchten leerer Räume, blitzblank, mit einem geschmackvoll hellen Holzboden versehen und mit aller für ein modernes Museum notwendigen Struktur ausgestattet, wirken bei einem Besuch in der noch leeren Casa Daros ein wenig einschüchternd. Bei einem kurzen Blick in die «Phase 3» genannten, noch unrenovierten Teile des grossen Gebäudes klettert die Fantasie schneller die schäbigen Wände hoch, nistet sich im wurmzerfressenen Holz der alten Böden ein.
Aber schon laufen die ersten Daros-Kunstvermittlungs-Kurse in der Favela Dona Marta. Die Kids aus den Slums, eher als die Oberschicht, seien die anvisierte Daros-Klientel – dessen ist sich Herzog sicher. Der kubanische Vermittlungsprogramm-Leiter Eugenio Figueroa zeigt dazu eine Reihe leicht verwischter Aufnahmen von Strassenszenen. Fotografiert wurde mit einer grossen Camera obscura. Es sei toll gewesen, bei den an Schnappschuss-Ästhetik gewohnten Jungs und Mädels den Sinn für die archaische Fotografie zu wecken.
Doch Rios Favelas und seine reichen Quartiere bilden ein System miteinander verbundener Gefässe. Das zeigt sich am gleichen Abend noch, an der Vernissage von Adriana Vareja’o, einem Superstar des brasilianischen Kunstbetriebs. Vareja’o, eine Magazin-Schönheit mit dunkler Lockenmähne, war bis 2010 mit dem Sammler und Minenmagnaten Bernardo Paz verheiratet, dessen sechste Exfrau sie nun ist. Ihr Pavillon in Paz extravagantem Freiluftmuseum Inhotim bei Belo Horizonte, einem begehrten Reiseziel westlicher Kuratoren, hat dazu beigetragen, dass ihr Stil weltweit bekannt wurde. Ihr Markenzeichen: sauber gekachelte Räume in Verbindung mit blutrünstigen Fantasien postkolonialer Rache. Ihre Werke, die nun in den Sammlungen von Tate Modern bis MoMA nicht fehlen, erreichen Preise bis 1,2 Millionen Dollar. In den Beständen von Daros Latinamerica fehlen sie gänzlich – zu modisch.
Umringt von einer Menschentraube aus Honoratioren, führt Vareja?o, im blutroten Kleid und leicht schwankend auf hohen Absätzen, den mächtigsten Mann im Staate durch die Schau im MAM Rio: den Gouverneur Sergio Cabral. Seit 2007 im Amt, gilt der Gouverneur einhellig als der erste gute Verwalter des Gliedstaates Rio de Janeiro seit einem Vierteljahrhundert.
Nach Dekaden von Schulden und Skandalen hat er mit einer Mischung aus geschicktem Taktieren und starker Hand die Stadt Rio zu dem Ort gemacht, der heute der Austragung der Fussball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 entgegenfiebern kann.
Seine zuweilen auch brutalen Polizeitruppen «Unidade de Polícia Pacificadora» haben den von Drogenbossen beherrschten Favelas wie Dona Marta oder Rocinha Entspannung gebracht. In der Nähe der Zona Sul, also der berühmten Strände Ipanema und Copacabana, entstand dadurch ein Novum: Favelas, in welchen Kinder Kreativkurse besuchen und die Armut den Touristengruppen von ihrer pittoresken Seite vorgeführt werden kann.
Eine ihrer bekanntesten ist Vigidal. Nur langsam kämpft sich hier das Fahrzeug die steile Strasse hoch, vorbei an Menschen, die Hälften von frisch geschlachteten Schweinen und Bierkisten auf den Schultern tragen. Die Gentrifzierung hat bereits angefangen. Ihre ersten Boten, die Betonmischer, bedienen Baustellen von Hotels und Villen.
Mit wütender Wucht schleudert ein Junge den Monolog heraus
Die Kulturvergangenheit von Vigidal reicht bis in die 80er-Jahre zurück. Viele Schauspieler für Fernando Meireles Oscar-nominierten Film «City of God» kamen von hier. Talentscouts besuchen regelmässig die Strassenvorstellungen auf dem Hügel.
Ein dunkelhäutiger Junge springt auf die improvisierte Bühne. Mit wütender Wucht schleudert er einen Monolog heraus: Es ist die Geschichte eines jungen Schwarzen, dem die Mutter eingebläut hat, immer nur brav zu lächeln. Die weissen Zähne des jungen Schauspielers springen fast aus seinem Gesicht heraus. Man versteht, auch ohne des Portugiesischen mächtig zu sein: «Carranca», die starre Grinsfratze, erstickt in ihm jede Freiheitsregung.
Wie hiess doch das Fotoprojekt der Casa Daros? «Metamorphose», die Veränderung. Allzu lang hat Rio, die Strandschöne Brasiliens immer nur gelächelt. In dem sich langsam ausbreitenden Wohlstand verschwindet die starre Lachfratze, die Stadt erwacht und drängt auf die Weltbühne. Und das mit Lust. Denn Abwehr, wie uns Freund Bechara eingebläut hat, ist so was von gestern.
Publiziert in der SonntagZeitung am 03.02.2013