Die Nachricht von Nelson Mandelas Tod hätte eine Filmsequenz sein können. Erste Szene: Johannesburg, 21 Uhr. Der 95-jährige Mann stirbt in seiner Wohnung. Zweite Szene: London, 22 Uhr. Die Nachricht erreicht seine Töchter Zindzi und Zenani im dunklen Kinosaal. Still schleichen sie hinaus, während Prinz William samt Gattin und weiterem Premierenpublikum die neuste Mandela-Biografie «Long Walk to Freedom» zu Ende schaut. Dritte Szene: Paris, Freitag, 9 Uhr. Der französische Präsident François Hollande hält gemeinsam mit 53 afrikanischen Staatsoberhäuptern, die gerade zum «Gipfel für Frieden und Sicherheit in Afrika» angereist sind, eine Schweigeminute.
Das Zusammenfallen der Ereignisse ist filmreif – und typisch. Auch zur Ikone der Popkultur wurde Nelson Mandela in Abwesenheit. Er betrat mit dem Song «Free Nelson Mandela» der Band Special AKA 1984 die Bühne und verliess sie danach nie wieder. Während die britische Band mit dem seltsam fröhlichen Protestsong ihren einzigen wahren Welterfolg feierte, sass Mandela bereits seit 21 Jahren im Gefängnis. Obwohl er hinter Gitter war, gelang es ihm, die Welt so zu beeindrucken, dass U2-Sänger Bono in seinem am Freitag veröffentlichten Mandela-Nachruf sagt, der Anti-Apartheidkämpfer sei schon seit seinen Teenagerjahren sein wichtigster Berater gewesen (Bono wurde 1960 geboren).
Es war Mandelas Stimme. Das höfliche, dezidierte Auftreten. Das undurchdringliche Lächeln. Die Unerschütterlichkeit seines politischen Konzepts, das er bereits in seinem allerersten Fernsehinterview vollständig beieinanderhatte. In diesem Interview, das der polizeilich Gesuchte dem britischen Fernsehsender ITN aus seinem Versteck gab, sieht man einen Mann, den die Öffentlichkeit nie kannte: den jungen, 42-jährigen Mandela. Er sieht keinem der neun Schauspieler ähnlich, die ihn später verkörpern werden. Das wacklige, schwarzweisse Fernsehbild zeigt weder einen athletischen Hünen wie Idris Elba im neusten Film noch einen eleganten Sympathieträger wie Sidney Poitier in «Mandela and De Klerk» von 1997.
Der Mann, der im Dokumentarvideo dem perfekt gescheitelten weissen Interviewer gegenübersitzt, hat seinen eigenen Scheitel in die schwarzen Locken mit einem Rasierapparat hineingefräst. Er wirkt untersetzt, sein Blick hinter den zusammengekniffenen Augen ist hart, die Antworten kommen wie aus der Kanone geschossen: «Südafrika ist ein Land, in dem es Platz für alle Rassen gibt. Unsere Forderungen sind sehr klar: ein Mann, eine Stimme.»
Als er vier Jahre später seine berühmte Rede im Rivonia-Prozess hält, ist keine Kamera dabei. Doch auch in der Tonbandaufzeichnung erkennt man den Reifungsprozess – da hat er schon zwei Jahre Gefängnis hinter sich. Die Worte folgen langsamer, bedeutungsvoller, bis der erschütternde Schlusssatz fällt: «But if needs be, it is an ideal for which I am prepared to die.» Als Held der Popkultur ist Nelson Mandela keine romantische Identifikationsfigur wie die früh verstorbenen Revolutionäre Che Guevara oder der Südafrikaner Steve Biko. Vielleicht weil er erst nach seiner Befreiung so richtig sichtbar wurde, ist er eine Vaterfigur. Man will nicht Mandela sein, man will ihn zum Berater haben, wie Bono das ausdrückt.
Vielleicht scheitern darum so viele dieser Biografien, Filme, Theaterstücke und Opern, die er inspiriert hat. Selbst in Clint Eastwoods «Invictus» von 2009 wirkt die von Matt Damon gespielte Figur des Rugbykapitäns François Pienaar plastischer als die des charismatischen Staatschefs. Auch der gewohnt tolle Schauspieler Morgan Freeman kann einer Figur, an der alles Licht ist und so gar nichts Schatten, kaum Leben einhauchen.
Mandelas dunkle Seiten – seine Verzweiflung, seine Wutausbrüche, sein Schürzenjägertum, die Vernachlässigung, die seine sechs Kinder und drei Ehefrauen in Kauf nehmen mussten, sind schwer fassbar. Selbst jenes Buch, welches sich die Aufdeckung der Abgründe hinter dem Monument zur Aufgabe gestellt hatte, David James Smiths Biografie «Young Mandela», tut sich schwer damit. Zwar wird in Smiths Buch ein Mandela sichtbar, dem es leichter fällt, den Fremden gegenüber Herzlichkeit zu zeigen als seinem eigenen Sohn Makgatho, der dem Alkoholismus verfällt und 2005 an Aids stirbt. Doch die Bewunderung des Autors bleibt spürbar, und die Gründlichkeit, mit der jedes noch so kleine Vergehen Mandelas ans Licht gezehrt wird, hat etwas Angestrengtes.
Raubtierhafter Jungpolitiker mit Vorliebe für schnelle Autos
Immerhin muss William Nicholson, Drehbuchautor des neusten Mandela-Films, der in Südafrika bereits ein Kassenhit ist und auch bei uns bald in die Kinos kommt, Smiths Buch genau gelesen haben. Obwohl «Long Walk to Freedom» eigentlich auf der gleichnamigen Autobiografie Mandelas basiert, enthält der Film auch Elemente des echten Jung-Mandela: ein raubtierhafter Jungpolitiker, der schicke Anzüge und schnelle Autos liebt und dem kaum eine Dame in der pulsierenden Metropole Johannesburg widerstehen konnte.
Noch 2007 bezeichnete Nicholson, der zehn Jahre lang am Drehbuch zu «Long Walk to Freedom» sass, seinen künftigen Film-Mandela in einem Interview als eine «Einmann-Gefahrenzone». Er würde alle Menschen, die ihm nahe kamen, unwillentlich zerstören, sagte Nicholson, darunter auch seine beiden ersten Frauen Evelyn und Winnie. Im Film, dessen Londoner Premiere auf eine schicksalshafte Weise mit der Nachricht über das Ableben des grossen Mannes zusammenfiel, strahlt Mandelas Stern weit weniger getrübt, als diese Ankündigungen vermuten liessen.
Der von Harvey Weinsteins mächtiger Produktionsfirma verantwortete Film ist ein sicherer Oscar-Kandidat. Das hat mit der Qualität des Films nicht einmal so viel zu tun. Sondern ist eine weitere Verbeugung der Welt vor einem Staatsmann, der mit schierer Willenskraft die Geschichte in eine bessere Richtung lenken konnte.
Publiziert in der Sonntagszeitung am 08.12.2013