Die russische Aktivistin Ekaterina Nenaschewa (rechts) nähte zusammen mit der Pussy-Riot-Frau Nadja Tolokonnikowa (links) auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz eine Fahne, bis sie verhaftet wurde. Die Bilder, die sie aus dem Gefängnis twitterte, gingen um die Welt. Einen Tag später wurde sie entlassen. Ich hörte von der Aktion, als ich für eine Kunstreportage in Moskau war und bat Katja über Facebook um ein Interview. Sie sagte zu und kam in der Sträflingsuniform, die sie selbst genäht hat und aus Protest gegen die schlechte Haftbedingungen in Russland während 30 Tagen trug. Wir sprachen in meinem Hotelzimmer über ihr Engagement. Die klare Weltsicht, präzise Sprache und psychische Reife der jungen Frau haben einen grossen Eindruck auf mich gemacht. Hier das daraus entstandene Interview.
Katja, was ist passiert?
Am 12. Juni, einem Nationalfeiertag, wurden wir zwei Frauen während einer Performance am Bolotnaja-Platz in Moskau verhaftet. Nadja Tolokonnikowa – die ein Mitglied der Band Pussy Riot und ehemalige Strafgefangene ist – half mir beim Nähen, als die Polizisten kamen.
Der Name Bolotnaja weckt Erinnerungen an die Proteste 2012. War die Adresse bewusst gewählt?
Natürlich. Viele Teilnehmer der Demonstration vom 6. Mai sind noch im Gefängnis. An diesem symbolträchtigen Ort wollten wir unsere Performance aufführen: In Uniformen der Strafgefangenen eine russische Fahne nähen.
Sie tragen diese Uniform schon seit Wochen?
Ja, die Performance fand im Rahmen meiner Aktion «Habe keine Angst» (russisch: «Ne bojsja») statt. Diese Aktion thematisiert die Wiedereingliederung von ehemaligen Strafgefangenen. Sie soll eine breitere Öffentlichkeit für diese Problematik schaffen.
Worin besteht die ganze Aktion?
Ich trage dreissig Tage lang die Uniform einer Gefangenen. Ich gehe in ihr arbeiten, ins Restaurant, ins Theater, in die Metro oder zum Coiffeur und setze mich den Reaktionen aus, die diese Kleidung hervorruft. Oft sind sie gereizt, aggressiv. Viele Menschen verstehen gar nicht, dass das eine Gefangenenuniform ist, dennoch macht sie diese schlichte Kleidung mit aufgenähter Gefangenennummer unwirsch oder ängstlich. Das ist für mich unangenehm, und dieses ungute Gefühl kommt meinem Werk zugute.
Inwiefern?
Bei der Aktionskunst geht es ja darum, die Gefühle eines Menschen in einer solchen Situation zum Thema zu machen: Trauer, Unsicherheit, Niedergeschlagenheit und vor allem sehr viel Angst. Je stärker diese Gefühle in mir sind, desto stärker die Herausforderung des Kunstwerks an die Welt.
Wie hängt die Fahnenperformance damit zusammen?
Gestern war der 18. Tag meiner Aktion, und Nadja Tolokonnikowa hat beschlossen, mitzumachen. Wir haben uns mit Stoff in den russischen Nationalfarben und einer kleinen alten Nähmaschine an den Bolotnaja-Platz begeben.
Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Pussy Riot?
Ich habe am Vortag die MediaZona, eine von Pussy Riot initiierte Newsseite der Bürgerrechtsbewegung, über die Aktion informiert. Nadja hat mir dann sofort geschrieben, dass sie meine Aktion unterstützen will. Kurz vor der Performance haben wir uns erstmals gesehen.
Wie hängt das Nähen mit Ihrem Thema zusammen?
Das Nähen ist ein kreativer Prozess, kann auch sehr schön sein, ein Hobby, doch es ist ebenfalls ein Werkzeug zur Ausbeutung der Strafgefangenen, welche Kleidungsstücke ohne Lohn nähen müssen. Auf diesem Widerspruch hätte unsere Performance basieren sollen, wir sind aber nicht weit gekommen.
Was kam dazwischen?
Nach wenigen Minuten sind Polizisten aufgetaucht. Wir haben sie ignoriert und weitergenäht. Sie haben uns in den Kastenwagen gezwängt, Faden, Stoff, Nadeln mit eingepackt. Die Nähmaschine haben sie zuerst vergessen und mussten nochmals anhalten, um sie zu holen. Das hatte durchaus eine komische Wirkung.
Haben die Polizisten Tolokonnikowa als Pussy-Riot-Mitglied erkannt?
Erst als sie auf dem Polizeiposten ihren Pass zeigte.
Mit welcher Begründung führte man Sie ab?
Da gab es nicht viele Erklärungen. Die einzige, die wir gehört haben, war: Man näht nicht auf der Strasse. Ein konstruktives Gespräch kam während der ganzen Zeit nicht auf.
Gab es Übergriffe?
Eine Frau, deren Funktion mir unklar war, verlangte, dass wir unsere Uniformen ausziehen. Da wir keine anderen Kleider dabei hatten, wollten wir das nicht tun. Es hiess zu einem gewissen Zeitpunkt, dass wir in den Uniformen überhaupt nicht rauskommen werden, was mir lachhaft schien, denn diese «Uniformen» habe ich selbst genäht, sie sind eigentlich nichts anderes als ein normaler Bleistiftrock und Bluse.
Waren die Beamten also nicht aggressiv?
Bei der Abführung gab es schon Kraftanwendung, aber keine Schläge. Es waren fünf Polizisten und wir nur zwei Frauen. Auf dem Kommissariat, und vor allem nachdem sie bemerkt haben, dass Nadja die Frau von Pussy Riot war, gab es grobe Witze und abschätzige Bemerkungen. Unhöflich, verächtlich, beleidigend, aber keine physische Bedrohung.
Glauben Sie, dass Sie durch die Präsenz der weltberühmten Aktivistin Tolokonnikowa besser oder schlechter behandelt worden sind?
Ohne sie, da bin ich mir sicher, wäre ich länger zurückgehalten worden. Als wir im Saal sassen, wurde ein junger Mann reingebracht, dem das Telefon und alle seine Sachen abgenommen wurden. Ich habe auch mit Nadja darüber gesprochen, dass wir wohl zu den besser Behandelten gehören.
Sie haben aus dem Kommissariat getwittert, also durften Sie die Telefone behalten?
Ja, diese hatten wir in unseren Blusentaschen. Aber die Nähutensilien nahm man uns weg, vor allem den Stofffetzen mit der Aufschrift IK-1.
Was hat diese Aufschrift zu bedeuten?
Ispravitelnaja kolonia odin – Strafkolonie eins. Wir wollten diesen Schriftzug auf die fertige Fahne nähen, als Metapher für Russland.
Woher kommt Ihr Engagement für Gefangene?
Ich arbeite in einem Sozialwerk, das sich um Kinder ohne Eltern kümmert. Dabei bin ich mit dem Phänomen konfrontiert worden, dass den gefangenen Frauen nicht erlaubt wird, mit ihren Kindern Kontakt aufzunehmen. In den russischen Straflagern gibt es eine grosse Anzahl von Frauen, die ganz allein sind. Niemand schreibt ihnen, niemand spricht zu ihnen, und sie verkümmern menschlich. Oft kommen diese Frauen freiwillig in die Straflager zurück, indem sie Vergehen anderer auf sich nehmen, weil sie vor dem Leben draussen schlicht Angst haben. Deshalb habe ich meine Aktion «Habe keine Angst» genannt.
Welche Angst ist damit gemeint?
Die Frauen haben Angst vor der Welt draussen, und die Menschen draussen haben Angst vor ehemaligen Strafgefangenen. Solange wir aber voreinander Angst haben, wird nur dem System geholfen, und die Welt wird nicht besser.
Ein unpolitischer Kampf um eine bessere Welt, das klingt für manche naiv.
Das ist doch gerade der Punkt: Solange nur Politiker aufeinander folgen, wird sich nie etwas ändern. Nawalny will Putin ersetzen? Glauben Sie, dass dadurch etwas besser wird? Wir müssen bei uns selbst anfangen. Die Toleranz ist die Grundlage der Demokratie. Als Aktivistin will ich sie in meiner Gesellschaft verankern helfen.
Ist es ein Sozialprojekt oder Kunst?
Beides. Ein sozial-künstlerisches Projekt. Mir scheint es wichtig, dass die Künstler heute Projekte machen, die gesellschaftlich relevant sind.
Haben Sie jetzt auch Angst?
Natürlich. Ich sehe diese neue Situation – dass ich auf die Anklage warte und nicht weiss, was mir zur Last gelegt wird, dass ich nicht weiss, ob ich observiert werde und so weiter. Ich sehe das als Teil meiner Aktion. Ich arbeite daran, meine Erfahrung auszuweiten. Nach diesem Interview gehe ich in meiner Gefangenenuniform zum Anstellungsgespräch bei McDonald’s. Mal sehen, wie die reagieren.
Welche Probleme der russischen Wirklichkeit wollen Sie noch in Angriff nehmen?
Neben dem unmenschlichen Strafvollzug ist auch das psychiatrische System Russlands veraltet und repressiv. Die Sozialisierung von Kindern aus den Kinderheimen ist schwierig. Die Meinungsfreiheit ist ein weiteres Thema.
Wie steht es um diese?
Schlecht. Ich war Journalistin, daher weiss ich das aus eigener Erfahrung.
In welchem Medium haben Sie gearbeitet?
In der Zeitung «Gazeta Zawtra». Zunächst war das ein normales Medium, wurde aber mit der Zeit immer stärker zum Organ der regierenden Partei. Als ich am Ende einen Artikel über die Ukraine verfasst habe, hat ihn die Redaktion so redigiert, dass seine Aussage komplett verfälscht wurde. Ich wurde nach wenigen Monaten entlassen.
Hat Sie dieses Erlebnis radikalisiert?
Ich bin aus Krasnodar, wo ich aufgewachsen bin, nach Moskau gekommen, um Journalistin zu werden. Hier habe ich aber schnell begriffen, dass man in den russischen Medien nicht so arbeiten kann, wie ich es mir vorgestellt habe. Dann habe ich mich der Sozialarbeit und der Aktionskunst zugewendet. Ich empfinde das nicht als eine Radikalisierung.
Veröffentlicht im Tages Anzeiger am 16. Juni 2015