Kentridge und die «Nase»

Eine der Folgen der südafrikanischen Apartheid war die kurz nach dem Fall des Regimes eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission. Die von Nelson Mandela erfundene und von Desmond Tutu präsidierte Para-Behörde ermutigte die Verbrecher aus der dunklen Zeit der Rassentrennung dazu, ihre Untaten vor Zuhörern zu bereuen. Damit hatte es sich auch. Die öffentliche Beschämung und Reue, so die Prämisse, sollte eine juristisch verhängte Strafe durch eine gesellschaftlich konstruktivere Praxis ersetzen.

An diese interessante, aber auch seltsam ambivalente gesellschaftliche Einrichtung muss man beim Anblick von William Kentridges Werken oft denken. Öffentliche Beschämung statt Strafe ist am Ende vielleicht auch kein besonders humanes Konzept; die Farce eines lärmigen Bauerngerichts, bei dem die Schuld verhandelt, aber nicht wirklich gefunden wird, steht oft im Hintergrund der Filme und Werke des 61-jährigen Künstlers. Auch jetzt, im Haus Konstruktiv, in dem der südafrikanische Künstlerstar seine von der russischen Avantgarde inspirierten grossartigen Videos zeigt. Ein Schritt in den Erdgeschosssaal, und schon ist man mitten in der schrillen Kentridge-Welt: groteske Figuren, absurde Rituale und – Musik! Hereinspaziert, meine Damen und Herren, Musik!

Mit komödiantisch verbrämter Verzweiflung zappeln hier Pferde, Menschen und Nasen, sie steigen auf Leitern, bilden Prozessionen, tanzen Kasatschok oder klagen einander mit Zitaten aus stalinistischen Schauprozessen der 30er-Jahre an. Die ganze Suite von acht nur wenige Minuten langen Filmstücken läuft simultan und trägt den rätselhaften Titel «I am not me, the horse is not mine», was die ins Englische übersetzte russische Entsprechung von «Mein Name ist Hase» ist, also eine Formel, die jede Schuld weit von sich weist. Spätestens nach der Klärung der Redewendung wird klar, was William Kentridge an Schostakowitschs Oper «Die Nase» – und an der ihr zugrunde liegenden Erzählung Nikolai Gogols – fasziniert haben mag: das südafrikanische Thema der sich diffus in alle Lebensbereiche einschleichenden Schuld.

Repetieren, variieren

Es war Kentridge, der auf die Anfrage der New Yorker Metropolitan Opera 2006 die skurrile «Nase» vorschlug. Die Premiere fand 2009 statt, auf einer virtuos von Kentridge eingerichteten Bühne. In den drei Jahren dazwischen entstanden unzählige Werke, in welchen der Künstler sich das Thema, wie das seine Gewohnheit ist, repetierend, variierend und verfremdend aneignete. So entstanden Radierungen, Zeichnungen, Collagen, Skulpturen, ja sogar Teppiche – alles im Haus Konstruktiv zu sehen, – und überall geistert die ominöse Nase des Petersburger Kollegien-Assessors Kowaljow herum.

Was hat es mit dieser Nase auf sich? Der russische Schriftsteller Nikolai Gogol (1809–1852), realistischer Vorläufer des Surrealismus, erzählt in seiner rätselhaften Novelle die abstrusen Erlebnisse des Petersburger Beamten, der eines Tages ohne Nase aufwacht. Es stellt sich heraus, dass der unsubordinierte Körperteil sich in eine höhere Stellung als sein Besitzer hineinzumogeln vermochte. Unangenehm: Kowaljow begegnet seiner eigenen Nase in der Kirche; zu seinem Entsetzen trägt sie die funkelnde Uniform eines Staatsrats.

100 Jahre nach Erscheinen der Novelle wendet sich der erst 24-jährige Dmitri Schostakowitsch der Burleske zu. Man schreibt das Jahr 1930, das starre Beamtensystem des alten Russlands ist Geschichte, doch der junge Sowjetstaat erlebt den Aufstieg einer neuen, ebenso dumpf machtgierigen Klasse, die der Parteifunktionäre. Diese neuen Kleinbürger, von den avantgardistischen Höhenflügen des Jahrhundertanfangs bereits Lichtjahre weit entfernt, sahen in der Musik Schostakowitschs lediglich «Wirrwarr». Ähnlich verdächtig erschien ihnen die Farce von Gogol – kein Wunder. Sie mussten sich in dem Wettstreit um Macht und Einfluss, den Kowaljow mit seiner Nase ausficht, diffus veräppelt vorkommen. Die Oper verschwand nach ihrer Uraufführung 33 Jahre lang in der Ver­senkung, wird seither aber oft aufgeführt.

Der Kuratorin Sabine Schaschl ist es nun gelungen, den ganzen Reichtum von Kentridges Auseinandersetzung mit der «Nase» nach Zürich zu holen. Da die Schau einen thematischen Schwerpunkt hat, ist es keine klassische Retrospektive, was ihr keinen Abbruch tut. Im Gegenteil, konzentriert und unterhaltsam bekommt man die Vielseitigkeit des Künstlers vorgeführt, der in den meisten der gängigen Rankings unter den wichtigsten zehn weltweit gelistet wird.

Der Sohn eines jüdischen Juristenpaars (das sich während der Apartheid auf die Verteidigung von Menschen dunkler Hautfarbe spezialisiert hatte) ist in den 90er-Jahren mit dem Vermischen von Kunst, Film und Theater bekannt geworden. Seine Trickfilme, für die er in archaisch anmutender Stop-Motion-Technik Zeichnungen und Puppen animiert, wurden auf der Documenta, an der Biennale, in New York, Paris, London gezeigt. Zurzeit wird seine Inszenierung von Alban Bergs «Lulu» in Amsterdam gespielt. Die furiose Schau um «seine Majestät die Nase», wie es Kentridge in einem seiner Werke ausdrückt, bringt sein künstlerisches Universum endlich in die Schweiz.

Veröffentlicht am 9. Juni im Tages Anzeiger.

About Ewa Hess

Swiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, Zürich

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