«Hier genügte es, nackt zu tanzen»: Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk über den Monte Verità als Utopie und die Schweiz als Mätresse Europas. Ich traf den brillanten Provokateur in Ascona. Auf dem Weg von Ascona auf den Monte Verità begrüsst der Philosoph ihm vertraute Orte wie alte Bekannte und erzählt mir davon: In diesem Kirchlein habe er mal ein Konzert gehört, dort sei er mit dem Fahrrad hochgeradelt, nach dieser Kurve öffne sich der überwältigende Blick ins Tal. Bei der letzten Wegbiegung bleibt unser Kleinbus stehen, wir nehmen noch zwei winkende Wanderer auf: Es ist der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, 83, und seine Frau. Man kennt sich, die Begrüssung ist herzlich. Im Bus sitzen schon nebst Sloterdijk die Schriftsteller Wladimir Sorokin und Mathias Énard. Wir sind unterwegs zum dritten Tag des neuen Literaturfestivals «Primavera Ticinese» in und um Ascona. Ausgerechnet auf dem legendären Monte Verità, wo am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Gemeinschaft von Bohémiens die Utopie des natürlichen Lebens zu verwirklichen suchte, spricht Sloterdijk, 65, der seit Erscheinen seines epochalen Werks «Kritik der zynischen Vernunft» 1983 zu den Koryphäen des internationalen Geisteslebens gehört, über das Thema «Warum Utopien scheitern» (der Vortrag findet am Sonntag, 31.3.2013, um 17 Uhr statt). Ich darf ihn schon vorher zum Thema befragen.
Herr Sloterdijk, warum scheitern Utopien?
Der Titel des Referats ist etwas irreführend. Unerfüllbarkeit gehört zur Utopie als solcher. Daher kann man nicht sagen, dass die Utopien scheitern. Projekte können scheitern oder Erfolg haben, Utopien nicht.
Was ist der Unterschied?
Projekte sind Pläne, und bei der Durchführung von Plänen kommt es praktisch immer anders, als man dachte. Es ist ein Teil der heute herrschenden Konfusion, dass man den Unterschied zwischen Projekt und Utopie nicht mehr versteht.
War der Monte Verità eine Utopie oder ein Projekt?
Die Lebensversuche von Ascona um 1905 stellten ein vages Projekt dar. An echten Utopien kennt Europa nur zwei Archetypen – Arkadien und Amerika. Ascona war weder das eine noch das andere, sondern ein lebensreformerisches Experiment. Immerhin, in Ascona und im Isartal südlich von München wurde der Nudismus geboren. Hier praktizierte man zuerst die Sonnenanbetung, die hundert Jahre später zu einer populären Religion wurde.
Nackt unter der Sonne – das klingt doch nach Arkadien, dem mythischen Naturparadies.
Die Ascona-Leute waren utopisch bewegt. Sie suchten die Synthese aus Arkadien und Amerika. Die Brissagoinseln waren ein Garten der Freuden, gleichzeitig stellten sie den Ort am anderen Ufer en miniature dar.
Die Utopie ist eine Insel?
Ohne Insulation ist die Utopie nicht zu denken. Wer die glückliche Insel erreichen will, muss das Schiff besteigen und bei der Überfahrt sein Leben wagen. Das haben die Emigranten nach Amerika im 16., 17. und 18. Jahrhundert tatsächlich getan. Kein Mensch von heute könnte sich vorstellen, mit den damaligen Schiffen das andere Ufer des Atlantiks zu suchen.
Ausser, wenn unbekannte Prämien lockten.
Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man wirklich glaubt, es lägen dort drüben Glücksgüter bereit, die man sich ohne Arbeit aneignen kann, dann wagt man den Aufbruch gegen alle Bedenken. Amerika war anfangs ein Kontinent, der den Europäern wie eine einzige grosse Schatzinsel erschien – das liefert die ökonomische Komponente des Inseltraums. An den Inseln Europas konnte man besser die erotische Traumkomponente festmachen. Sie kennen doch die «Einschiffung nach Kythera?»
Das Gemälde des französischen Malers Antoine Watteau?
Es zeigt den Archetypus der galanten Utopie in Vollendung. Besonders schön scheint mir die dritte, die Berliner Version des Gemäldes von 1717. Man sieht darauf elegante junge Menschen an einem Ufer, abfahrbereit, im fernen Hintergrund erahnt man die Konturen der Insel der Liebesgöttin. Der Aufbruch dorthin ist die wahre Utopie, denn die Liebe auf dem Festland soll von der Liebe auf der Insel träumen. Nur dort sammelte man die Kraft, so zu tun, als fände man den anderen immer grenzenlos interessant.
Aber Schätze warten in Amerika kaum noch auf den Besucher.
Die Amerikaner haben ihren Traum entzaubert, weil sie die Schatzsuche in Arbeit übergeführt haben. Sie haben aus dem Schatzsucher den Selfmademan gemacht. Die Amerikaner sagen: Reichtum ja, aber durch Arbeit. Das ist enttäuschend für alle, die sich am Schatzinsel-Pol der Utopie orientierten, wie so viele Besucher Asconas von einst. Hier genügte es, nackt auf der Wiese zu tanzen, und der neue Mensch sollte vom Himmel steigen.
Die ursprüngliche Utopia im Roman von Thomas Morus war allerdings kein Schlaraffenland, sondern so etwas wie eine gut durchorganisierte Schweiz.
Vergessen wir nicht: Die Utopie als neuzeitliches literarisches Genre gehört zum Korruptesten, was die Geschichte der Literatur kennt. Sie malt alternative Welten aus, die ihre realen Kosten systematisch auslagern und verschweigen. Ob dies etwas mit dem Modus vivendi der Schweiz zu tun hat, kann ich nicht beurteilen, ich hoffe nicht, ich finde die Schweiz ein sympathisches politisches Konstrukt.
Sie haben einmal gesagt, die globalisierte Welt gleiche einem grosshelvetischen Experiment. Meinten Sie das positiv oder negativ?
Ich bezog diese Äusserung auf das vereinte Europa, das unter günstigeren Umständen tatsächlich eine Wiederholung der Schweiz in vergrössertem Massstab hätte werden können. Durch die Einführung der gemeinsamen Währung hat es seine historischen Chancen vorerst zerstört.
Eine vernichtende Diagnose.
Nur eine nüchterne. Hysterie ist in Europa nicht am Platz. Scheitert der Euro, wird man eine andere Währung probieren, irgendetwas auf halbem Weg zwischen gemeinsam und getrennt. Aber grosshelvetische Verhältnisse wären für Europa wunderschön gewesen.
Warum?
Weil die Kantonisierung der Nationen eine im Höchstmass begrüssenswerte Entwicklung darstellt. Der Kanton ist eine halbautonome Struktur, die zwischen Selbstsorge und Mitarbeit balanciert, und Halbautonomie wäre genau das Wort, das wir jetzt positiv besetzen müssten, um uns politisch zu reorientieren.
Sie nehmen Abschied von der nationalen Struktur?
Nein, die Nationen werden für die Europäer noch lange die bevorzugten Gehäuse des politischen Lebens bleiben. Aber die alten Vorstellungen von nationaler Souveränität verlieren an Plausibilität.
In der Schweiz heisst das Volk der Souverän.
So heissen die Völker inzwischen überall, gerade, wo sie progressiv entmündigt werden. Die Realpolitik kann im Augenblick mit den Völkern nichts mehr anfangen.
Weshalb diese Pattsituation?
Wahrscheinlich rührt das Unbehagen in der grossen Politik daher, dass Menschen nicht dafür geschaffen sind, in so riesenhaften Ensembles zusammenzuleben. Darum geht es in den meisten Grossreichen nicht ohne Zwang ab. Die 1,3 Milliarden Menschen, die heute in China leben, werden durch diktatoriale Praktiken zusammengehalten wie in kaiserlicher Zeit. Immerhin sind die Freiheitsansprüche der Europäer am Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich höher als die der Asiaten. Brüssel ist noch nicht Peking.
In Ihrem Buch «Du musst dein Leben ändern» beschreiben Sie, wie Menschen sich zu höheren Formen von Selbstdisziplin und konstruktivem Miteinander fortbilden können.
Durchaus, jedoch trifft das in erster Linie für die Einzelnen zu. Es lässt sich kaum auf die Ebene der politischen Strukturen übertragen, in denen man Menschen nach Hunderten von Millionen rechnet.
War es klug von der Schweiz, ausserhalb der Europäischen Union zu bleiben?
Ist Ihnen nicht auch aufgefallen, dass manche Leute sehr still geworden sind, die bis vor kurzem doziert haben, die Schweiz müsse um alles in der Welt Mitglied der EU werden? In dieser Angelegenheit hatte ich schon immer eine ironische Betrachtungsweise. Ich stellte gern die Frage: War die Schweiz nicht die ewige Verlobte Europas? Hatte sie nicht mit Europa fünfzehn Kinder, alle illegitim, und alle fröhlich? In solcher Lage heiratet man doch nicht mehr.
Die Schweiz als die Mätresse Europas, eine schöne Metapher. Sie wird nicht jedem gefallen.
Ich habe mich ihrer bedient, um den Sonderweg der Schweiz als positive Ausnahme zu beschreiben. Sollten die Schweizer doch ihren albernen Franken behalten! Sollten sie doch der Brüsseler Bürokratie die Türe vor der Nase zuschlagen! Ihren Platz in der Mitte Europas kann ihnen niemand nehmen. Inzwischen wird die Nichtmitgliedschaft wie eine glückliche Verschonung von den Sorgen der anderen erlebt.
Der Franken ist als Sieger aus der Währungskrise hervorgegangen, wenn auch seine Überbewertung der Schweizer Wirtschaft Mühe bereitet.
Hysterie ist nun mal das Betriebsklima von Projektemachern. Aber um auf das Thema von Ascona zurückzukommen: Projektemacher sind das Gegenteil von Utopikern. Herr Hollande hat mit Utopia nichts am Hut, und Frau Merkel erst recht nicht. Europa war eben nie eine Utopie, es ist ein Konstrukt von Projektemachern. Die müssen sich heute aufs Scheitern einstellen.
Das Scheitern? Da kommt einem der Spruch von Karl Valentin in den Sinn: «Die Zukunft war früher
auch schon besser.»
Der Prozess hat schon begonnen. In Zypern gehen Leute auf die Strasse, die wütend gegen die Nordeuropäer agitieren. Die Griechen nennen uns wieder Faschisten. Die Italiener strecken den Nordlichtern die Zunge heraus. Warum das alles? Weil in dem durch den Euro geschaffenen Überdrucksystem die Lebenschancen vieler europäischer Bürger zerstört wurden. Wehe also, wenn jemand behauptet, Europa stelle eine gute Utopie dar. Dem müsste man sofort auf die Finger klopfen!
Es gab aber Zeitspannen, in welchen die Blumenkinder ein anderes Europa träumten.
Die Suche nach der Insel des wahren Lebens lässt sich nicht aus der Welt schaffen.
Sie selbst waren ja in Poona?
Das ist sehr lange her.
War diese Gemeinschaft um den Bhagwan in Indien Ihr Kythera?
Die Insel der Aphrodite lag damals vor der Küste Indiens. Unerwartet war sie aus dem Ozean aufgestiegen, und sie verschwand ebenso unerwartet wieder. So etwas kann es immer wieder geben, wenn es auch nicht so aussieht, als würde es hier so bald dazu kommen. Ascona ist jetzt fest in den Händen von Touristen und Hausbesitzern, die mit dem Abenteuer von 1900 innerlich und äusserlich nichts zu tun haben.
Eigentlich schade.
Das kann man so eindeutig nicht sagen. Der archetypische Traum wandert ständig weiter, irgendwann entsteht wieder eine neue Insel. Spätere Kulturhistoriker können dann von Insel zu Insel Linien ziehen. So bleibt das Ascona von damals immer auf der Landkarte.
Publiziert in der SonntagsZeitung am 24.03.2013