Uli Sigg über M+

In China habe er sich drei Karrieren erarbeitet, erzählte mir Uli Sigg, 67. Im Zug von Ermattingen nach Zürich sprachen wir über eines der grössten Museumsprojekte des Jahrhunderts. Wir kamen vom «Pan-Asia» Art Forum der UBS in Wolfsberg zurück, wo Sigg neben Monique Burger und Sebastian Noe über die Entwicklung der Kunstszene in Hong Kong berichtete. Seine drei Karrieren, das sind jene des Geschäftsmanns, des Diplomaten und des Kunstsammlers. Als er 1979, erst 33-jährig, im Auftrag von Schindler nach China kam, gründete er das erste Joint Venture eines westlichen Industriekonzerns mit einem chinesischen Staatsbetrieb – ein Geschäftsmodell, das heute breit angewandt wird. Danach war er 1995 bis 1998 Schweizer Botschafter in China. Seit den Siebzigerjahren sammelt Sigg zeitgenössische Chinesische Kunst. Er besuchte früh die Ateliers der noch im Verborgenen arbeitenden Künstler (die damals kein Mensch kannte), unterstützte ihr Tun und kaufte ihre Werke. So kam seine einzigartige Sammlung zustande, die Sigg in verschiedenen Ausstellungen, u. a. «Mahjong» im Kunstmuseum Bern (2005), der Öffentlichkeit zeigte. Den grössten Teil dieser Sammlung hat Uli Sigg nun M+, dem geplanten Museum of Visual Culture in Hongkong, geschenkt.

Uli Sigg, Ihre legendäre Sammlung wird bald nach Hongkong verlegt. Haben Sie schlaflose Nächte?

Nein, warum auch? Schliesslich sind es Herzog & de Meuron, die als Architekten des neuen Museum bestimmt wurden. Damit ist das Projekt in guten Händen. Die Grundsteinlegung ist im März 2014.

Ist China nicht ein riskanter Standort für zeitgenössische Kunst?

Der Standort ist zwar China, aber Hongkong – für mich die beste Wahl. Die Hongkonger Regierung hat den Ehrgeiz, ein Museum von Weltformat auf die Beine zu stellen, weil es so etwas dort noch nicht gibt. Und in Hongkong herrscht «freedom of speech».

Ist Hongkong wirklich freier?

Für weitere 35 Jahre gilt Deng Xiaopings Slogan: «Eine Nation, zwei Systeme.» Hongkong bewahrt damit sein Rechtssystem, das im Blick auf die Meinungsäusserungsfreiheit noch britisch geprägt ist.

War die Gefahr der Zensur ein Grund, weshalb Sie die Sammlung nicht dem Hauptland geschenkt haben?

Bestimmt einer davon. Vor allem, dass man mir nicht genau sagen konnte, was unter die Zensurmassnahmen fallen und deswegen nicht gezeigt werden könnte. Diese Rahmenbedingungen zu kennen, war eine wichtige Voraussetzung für mich.

China war nicht zu Kompromissen bereit?

Jenen Funktionären, die sich Kenntnis verschafften, war es klar, was diese Sammlung repräsentiert und dass sie für China einzigartig ist. Doch die Entscheidung für dieses Projekt war mit zu vielen Risiken behaftet.

Welcher Art?

Sich dafür einzusetzen, hätte einzelne Karrieren gefährdet.

Mir ist aufgefallen, dass Sie Ihre Sammlung in Interviews oft «das Dokument» nennen. Warum?

Es war von Anfang an mein Ziel, eine Sammlung zusammenzutragen, welche die chinesische Kunst von den 1970er-Jahren bis jetzt kontinuierlich dokumentiert. In diesem Sinn ist die Sammlung ein gewichtiges Zeitdokument.

Es klingt so sachlich, als ob Sie damit auch die eigene emotionale Bindung verhindern wollten.

Normalerweise kann ich mich selbst nicht mit einem semantischen Trick überlisten. Aber wer weiss?

Ist die Trennung schwierig?

Natürlich. Auch wenn es mir und meiner Frau immer klar war, dass wir die Sammlung mal ihrem Ursprungsland zurückschenken, gibt es darin Werke, die einem sehr ans Herz gewachsen sind. Meine Frau empfindet das stärker als ich. Die Trennung ist zum Glück nicht abrupt. Die Sammlung ist bis 2017 noch bei uns.

«Das Dokument» umfasst 2100 Objekte, davon gehen 1500 nach Hongkong, Sie behalten 600. Nach welchen Kriterien haben Sie ausgewählt?

Ich wollte, dass die Sammlung, die ins Museum kommt, eine kohärente Geschichte erzählt, die chinesische Kunstproduktion der letzten 40 Jahre spiegelt. Es geht zwar um Kunst, aber auch um ein Abbild des dramatischen Wandels der Gesellschaft in dieser Zeitspanne. Zurückgeblieben sind Werke, die den schon Gewählten ähneln oder qualitativ nicht mithalten.

Aber einige Lieblingsstücke behalten Sie doch?

Gerade von diesen habe ich den grössten Teil weggegeben. Weil sie ganz besonders zur Geschichte gehören.

Zum Beispiel?

Das Werk von Ai Weiwei, das 132 4000-jährige neolithische Vasen umfasst. Von dieser Arbeit Abschied zu nehmen, fällt mir tatsächlich schwer. Andererseits ist sie so wichtig, dass sie in diese exemplarische Sammlung hineingehört.

Man spricht von einer Schenkung, doch Hongkong kauft Ihnen auch Teile der Sammlung für 22 Millionen Franken ab. Wie funktioniert das?

Ich bin bereit gewesen, die Sammlung dem Hauptland vollständig zu schenken. Als Hongkong als Standort ins Spiel kam, bot man mir die Bezahlung von 10 Prozent des Wertes an, was ich akzeptiert habe. Das wird mir ermöglichen, weiterzusammeln und meinen Kunst- und Kunstkritiker-Preis für China weiterzubetreiben.

Demnach ist der Wert Ihres Geschenks rund 200 Millionen Franken? Man spricht bereits vom grössten Geschenk, das je einem Museum gemacht worden ist.

Es war meine Absicht, China etwas zurückzugeben, auch aus Dankbarkeit für die Erfahrungen, die ich dort über 33 Jahre machen durfte. Es war eine unglaubliche Reise, deren intensivsten Teil die Begegnungen mit den chinesischen Künstlern ausmachten. Diesen will ich nun Präsenz an einem Ort sichern, wo ein Dialog mit dem eigenen Volk möglich ist.

Und das soll Hongkong sein?

Gerade dort! Schon heute reisen gegen 50 Millionen Chinesen jährlich nach Hongkong, viele als Touristen. Bestimmt werden viele ein so aussergewöhnliches Museum besuchen, um dort der Kunst ihres Lands zu begegnen.

Ist das chinesiche Volk überhaupt bereit, sich auf diese Kunst einzulassen?

Vielleicht nicht sofort, aber mit der Zeit bestimmt.

Die meiste Kunst, die in China gekauft wird, sind aber immer noch die traditionellen Tuschmaler.

Sie meinen die sogenannten Modern Masters, Tuschmaler des 20. Jahrhunderts. Die sind darum so allgegenwärtig, weil sie dem traditionellen Kunstideal entsprechen und enorm produktiv waren – oft mit Tausenden von Bildern.

Gab es Reaktionen in China, als es klar wurde, dass die Sammlung nach Hongkong geht?

Das offizielle China hat sich dazu nicht geäussert. Es gab Stimmen im Internet. Viele positive, die es grossartig fanden, dass die Sammlung sicher aufgehoben sei. Und auch negative, die bezweifelten, dass sich ein Sammler von etwas wirklich Wertvollem trennen würde. Aber da in China die Sammlung noch nie gezeigt wurde, entspricht diese Einschätzung keiner eigenen Anschauung.

Sie haben sich für Ai Weiwei eingesetzt in Wort und Schrift. Dennoch sind Sie weiterhin in der Aufsicht der China Development Bank und geniessen das Vertrauen der Behörden. Wie ist das möglich?

Es zeigt, dass ein bestimmtes Mass an Toleranz besteht. Dazu kommt, dass man einen einmal erreichten Status in China nicht so schnell verliert.

Hat dieser Status mit Ihrer Rolle als Erfinder des Handelsmodells, das China überhaupt eine Partizipation am Weltmarkt erlaubt hat, zu tun?

Das liegt schon weit zurück. Aber ich habe seither immer wieder dokumentiert, dass ich bereit bin, viel für China zu tun. Das schliesst allerdings nicht aus, dass ich mich kritisch äussere. China akzeptiert Kritik, wenn die Verantwortlichen die Person, die sie äussert, als kompetent einschätzen.

Beim Bau des Olympischen Stadions «Bird’s Nest» haben Sie die Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron mit Kenntnissen und Kontakten unterstützt. Wie wird das Stadion heute genutzt?

Ein schwieriges Kapitel. Es kommen zwar mehrere Tausend Besucher täglich, um das olympische Bauwerk zu bestaunen. Doch das ist nicht nachhaltig und entspricht nicht der ursprünglichen Absicht, weder der des chinesischen Staats noch jener der Architekten. Ich hoffe, dass man aus dieser grossartigen Substanz etwas macht, bevor sie zu stark leidet.

Gibt es Lehren, die man daraus für das neue Museum ziehen kann?

Kaum. Denn die Olympischen Spiele sind für jedes Land ein Unikat. Ein Museum hingegen kann auf der Erfahrung anderer Museen aufbauen.

Das Museum sammelt weiter – und Sie als Privatmann auch.

Ja, aber dadurch entsteht keine Konkurrenzsituation. Denn nun kann ich mich von der selbst auferlegten Pflicht, die Geschichte der chinesischen Kunst zu dokumentieren, entbinden. Und nur das sammeln, was mir gefällt.

Fängt also der Spass erst an?

Gewissermassen, ja.

Publiziert in der SonntagsZeitung am 06.10.2013

About Ewa Hess

Swiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, Zürich

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