October 2010

Der wahre Vater vom Sennentuntschi

Der wahre Vater vom Sennentuntschi admin | 29. Oktober 2010 – 07:44 VON EWA HESS UND MATTHIAS LERF TEXT UND SEVERIN NOWACKI FOTOS Hansjörg Schneider, junge Schweizer Literatur feiert unerwartete Erfolge. Erstaunt Sie das?Hansjörg Schneider kommt die Holztreppe herunter. Bauernhemd, derbe Schuhe, wacher Blick – der stattliche 72-Jährige könnte ein Wanderurlauber sein, hier im Hotel Engel in Todtnauberg im Schwarzwald. Vor vierzig Jahren hat der Schweizer Erfolgsautor mit seinem Theaterstück «Sennentuntschi» einen Skandal ausgelöst. Einen Tag vor unserem Interview fuhr er nach Basel, um sich Michael Steiners gleichnamigen Film anzusehen, der nächste Woche in die Kinos kommt. Nein. Das ist doch grossartig. Haben Sie die preisgekrönten Bücher gelesen? Das von Elmiger habe ich angefangen. Das von Nadj Abonji noch nicht. Wie hat Ihnen Elmigers Prosa gefallen? Ich bin kein Literaturkritiker. Fühlen Sie sich als Wegbereiter des Schweizer Literaturerfolgs? Warum sollte ich? Elmiger und Abonji sind junge Frauen, die ihre ganz eigene Literatur entwickeln. Das habe ich auch gemacht. Schrieben Sie Ihr «Sennentuntschi» 1969 nicht im Bewusstsein, ein Nachfolger Frischs und Dürrenmatts zu sein? Nein. Ich wollte nichts anderes, als diese Geschichte auf die Bühne stellen. Obschon ich keinen Augenblick damit rechnete, dass sie aufgeführt werden würde. Warum? Weil es eine so verrückte Geschichte ist. Wie fanden Sie Michael Steiners Film «Sennentuntschi»? Insgesamt sackstark. Er ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Was fanden Sie stark? Die Bilder, vor allem die auf der Alp. Andrea Zogg als Senn ist Weltklasse. Die Geschichte kommt gut durch – dass da die Sennen eine Frau machen, diese ausnüt zen und dann selber drankommen. Gefallen hat mir, dass sie nicht in der hehren Bergwelt spielt. Das ist nicht Eiger, Mönch und Jungfrau, das ist irgendein Seitental, mit Blechdächern, wo keine Sonne hinkommt. Ein paar Dinge fand ich aber schlecht. Was genau? Der Schluss ist verzettelt. Konfus. Dort zerfranst der Film richtig. Und die Musik war mir zu extrem. Ein paarmal habe ich die Ohren zugehalten – und manchmal auch die Augen. Und das Sennentuntschi als Figur hat Ihnen gefallen? Manchmal schon. Manchmal scheint die Darstellerin aber auch nicht zu wissen, was sie spielen soll. Ist sie eine Puppe? Oder ist sie real, ein Mensch? Ja, was ist das Sennentuntschi? Tja, was? In der Sage ist es ein Fantasiegebilde, das brutal in die Realität eingreift. Diese Kraft kommt im Film voll zur Geltung, finster wie eine griechische Tragödie. Die Sage war nicht breit bekannt, bis Sie 1972 Ihr Stück «Sennentuntschi» schrieben. Wie sind Sie auf die Geschichte gestossen? Ich habe mit einem Freund über Frauen geredet, und der war der Meinung, dass vor Frauen nur die Flucht helfe. Als Beweis für seine Theorie erzählte er mir diese Sage. Und ich wusste aufs Mal, drei Männer und eine Puppe, die lebendig wird, das ist Theaterstoff. Vor Frauen hilft nur Flucht? Aber in Ihrem Stück sind doch Männer die Bösewichte. Ja. Auch im Film ist es nicht die Frau, die böse ist. Aber es ist jetzt vierzig Jahre her, seit ich das Stück geschrieben habe. Ich kann es nicht mehr auf der Bühne sehen, ich laufe raus. Ah ja? Warum? Ich mag die brutale Primitivität dieses Stückes nicht mehr, diese Lieblosigkeit. Ihr eigenes Stück ist Ihnen selber zu brutal? Nein, das will ich nicht sagen. Aber ich habe mich in diesen vierzig Jahren verändert. Sind Sie empfindsamer geworden? Das ist möglich. Auf jeden Fall anders. Das Stück ist 1972 in Zürich uraufgeführt worden, aber den grossen Skandal gabs erst 1981 nach der Ausstrahlung der Fernsehversion mit Walo Lüönd. Was war da los? Das Telefon hat pausenlos geläutet! Man hat mich beschimpft, ich habe auch Pakete bekommen – mit Schweinereien darin. Das war mir zu viel, ich bin ins Tessin abgehauen. An der Publikumsdiskussion habe ich nicht teilgenommen, weil ich dachte, danach kennt mich die ganze Schweiz. Was war das Problem? Man empfand es als unanständig. Und die Sprache störte, dass die Sennen «vögle» sagten. Finden Sie in Steiners Film Teile Ihres Stückes wieder? Ja, ich habe vieles wiedererkannt. Michael Steiner sagt ja, er habe mein Stück nicht gesehen. Gelesen hat er es sicher, sonst wäre ja seine Vorbereitung fahrlässig gewesen. Er sagt jetzt, er habe die Sage verfilmt, und die ist frei, juristisch gesehen. Ich muss mal mit dem Verlag sprechen. Könnte der Verlag Ihres Stückes Rechte einklagen? Das weiss ich nicht. Warum haben Sie eigentlich mit dem Schreiben solcher Theaterstücke aufgehört? Ich habe zwanzig Jahre für die Stadttheater geschrieben. Dann war ich nicht mehr gefragt. Da begann ich für Laien zu schreiben. Landschaftstheater, mit Louis Naef und Liliana Heimberg. Das war grossartig. Ein ziemliches Kontrastprogramm. Nicht einmal. Ich lebe zwar in der Stadt, betrachte mich aber nicht als Städter. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und komme aus der Bauernwelt. Und Laien sind, wenn sie in ihrem Dialekt spielen, oft authentischer als Profis. Die Kränkung durch das Stadttheater sitzt aber noch tief? Warum vermuten Sie das? Weil man Ihren neuen Krimi «Hunkeler und die Augen des Ödipus» als eine Abrechnung mit der Theaterwelt lesen kann. Ich war ja in Basel am Theater, Regieassistent und Statist. Ich habe Stücke geschrieben. Die ersten fünf hat der Chefdramaturg Hermann Beil alle abgelehnt. Ich habe immer noch eine Wut auf den Herrn. Aber wenn ich ihn sehe, sage ich: Salut Hermann, wie gehts? Im Roman wird über die Schwätzer am Theater gelästert, und vorgeschlagen, man solle doch eher gute Köche staatlich subventionieren, die täten mehr fürs Allgemeinwohl. Ist das Ihre Meinung? Nein! Das Theater ist für mich immer noch etwas vom Besten, das die Menschheit erfunden hat. Ich gehe einfach nicht mehr hin. Wieso? Ich bin zu alt – es interessiert mich nicht mehr so brennend. Aber ich hatte eine ganz tolle Zeit am Theater. Schon in meiner Kindheit. Wir hatten ein grossartiges Kasperlitheater in Zofingen. Das hat mich mitgerissen, und die ganze Kinderschar, ein Geschrei war das. Herrlich. Das Wort «UnterhosenTheater» kommt im neuen Hunkeler auch vor. Spielen Sie damit auf den Theaterskandal um Marthaler in Zürich an? Vielleicht, aber Sie müssen schon unterscheiden, zwischen mir und dem, was in

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Die Politisierung der Lewinskys

Die Politisierung der Lewinskys admin | 29. Oktober 2010 – 07:57 Es ist ihr erstes gemeinsames Interview, und man merkt, dass sie es nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Schriftsteller Charles Lewinsky, 64, und sein Filmemacher-Sohn Micha, 37, geben im Zürcher Restaurant Volkshaus Auskunft über ihr neu erwachtes politisches Engagement und warum sie sich für die Ablehnung der Ende November zur Abstimmung stehenden Ausschaffungsinitiative einsetzen.Micha Lewinsky, machen Sie immer, was der Papa sagt? Micha Lewinsky: Ähm, nein. Charles Lewinsky: Es ist auf jeden Fall lange nicht mehr vorgekommen. Micha L.: Aber in diesem Fall… Haben Sie eine Serie von politischen Kurzfilmen realisiert, weil Ihr Vater geschrieben hat, dass man sich engagieren soll? Micha L.: Nein, so war es dann doch nicht. Es hat uns beiden gleichzeitig den Nuggi herausgejagt. Nachdem die Anti-MinarettInitiative angenommen worden war. Wir fanden es beschämend, dass das geschehen konnte und dass wir nichts dagegen gemacht haben. Das war die Politisierung der Lewinskys. Soll politisches Engagement bei den Kulturschaffenden nun Schule machen? Micha L.: Es ist nicht schwer, mit Engagement anzustecken: Mein ganzes Team und auch der Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart haben gratis mitgemacht. Alle waren erleichtert, etwas beitragen zu können. Und Sie, Charles Lewinsky, haben Sie mitgearbeitet? Charles L.: Ich hatte einen ersten Entwurf geschrieben. Er hat sich nicht durchgesetzt. Darf man erfahren, worum es ging? Charles L.: Nein . Micha L.: Doch, ich will es erzählen. Es ging um jemanden, der am Arbeitsplatz abgeholt wird mit dem Befehl, er müsse jetzt eine Ausschaffung vornehmen. Charles L.: Die Szene sollte zeigen: Auch wer nicht abstimmen geht, ist mitverantwortlich, wenn die Ausschaffungsinitiative angenommen werden sollte . Micha L.: Und dass viele Wähler anders entscheiden würden, wenn sie die Ausschaffung selber vornehmen müssten, gerade wenn hier aufgewachsene Kinder von Tätern das Land verlassen müssten. In den nun realisierten Filmen geht es um eine Schulklasse, in der ausländische Kinder vor die Tür gestellt werden … Micha L.: … und eben, nur ausländische. Die Schweizer Kinder dürfen beim gleichen Vergehen drinbleiben. Alle Kinder, die mitgespielt haben, waren sich einig: Das ist ungerecht. Charles L.: Sowohl die Initiative wie der Gegenvorschlag sind ungerecht. Zudem noch fremdenfeindlich und darum zutiefst unschweizerisch. Sie dürfen beide nicht angenommen werden. Micha L.: Das ist die Aussage meiner Kurzfilme. Das SVP-Plakat «Ivan S., Vergewaltiger – bald Schweizer?» funktioniert schneller! Charles L.: Es ist eine Holzhammer-Parole – wir aber vertrauen darauf, dass Schweizer Stimmbürger auch nachdenken. Micha L.: Ivan S. ist übrigens kein Vergewaltiger, er ist ein Fotomodel! Sein Bild kann man für 50 Franken im Internet kaufen. Wollen Sie denn, dass Vergewaltiger bleiben können? Micha L.: Logisch will ich keine Verbrecher in meiner Nachbarschaft. Doch diese Leute werden heute schon ausgeschafft. Nur wenn man die Worte «kriminelle Ausländer» oft genug wiederholt, denken alle, wie der pawlowsche Hund, beim Wort «Ausländer» irgendwann nur noch «kriminell». Die Ausgliederung Fremder ist in ganz Europa zu beobachten. Charles L.: Ja, es haben viele gemerkt, dass man mit Hetze gegen Fremde Stimmen gewinnen kann. Aber das ist eine Pendelbewegung. Die wird auch wieder zurückschwingen. Nur wollen wir uns nicht verkriechen und erst in zwanzig Jahren wieder schauen, ob sich etwas verändert hat. Darum sind Sie in eine Partei eingetreten? Charles L.: Ja. Aber wir folgen einander nicht, wir sind nicht einmal in der gleichen Partei gelandet. Wieso nicht? Charles L.: Ich vermute, wenn ich eine Generation jünger wäre, wäre ich auch bei den Grünen und nicht bei der SP. Ich bin aber nicht die Sorte Parteimitglied, das Prospekte verteilt und Plakate klebt. Ich kann dafür meine Cervelatprominenz dazu gebrauchen, um mich öffentlich zu äussern und Diskussionen anzuregen. Rot-Grün bei den Lewinskys. Machen Sie jetzt linke Kultur? Charles L.: Wir verteidigen eine Position, die mit der Schweizer Bundesverfassung übereinstimmt. Seit wann ist die ein linkes Dokument? Es gibt eine alte Hollywoodregel: Wenn du eine Botschaft hast, schicke ein Telegramm. Micha L.: Genau. Und diese Kurzfilme sind jetzt mein Telegramm. Allerdings: Kleine Botschaften haben wir immer eingestreut … Du zum Beispiel in die Sitcom «Fascht e Familie»… Charles L.: Obwohl es gar keine bewusste Botschaft war. Wir haben damals die Figur Annekäthi erfunden, und die richtige Besetzung dafür war nun mal eine Schweizerin mit dunkler Hautfarbe. Viele Leute fanden das «mutig». Mir war das gar nicht erst aufgefallen. Micha L.: Wie bei meinem Film «Die Standesbeamtin». Die dunkelhäutige Jennifer MulindeSchmid hat mir erzählt, dass es für sie das erste Mal war, dass sie nicht Asylantin, Putzfrau oder Opfer spielen musste, sondern eine gewöhnliche Sekretärin. Haben Sie als Kind viel vom Beruf Ihres Vaters mitbekommen? Micha L.: Was meinen Sie? Dass wir schon im Sandkasten dramaturgische Strukturen büffelten? Charles L.: Und in der Krippe aristotelische Dramentheorie verhandelten … Nein, im Ernst. Ich erinnere mich, dass meine Tochter nach einer Fernsehsendung, die ihr nicht gefallen hatte, mich darum gebeten hat, ihr eine Bescheinigung zu schreiben, dass sie adoptiert sei. Was war der beste Rat, den Sie vom Sohn bekommen haben, Charles Lewinsky? Charles L.: Er hat einmal gesagt: Ich möchte in deinem Manuskript stärker merken, wie Sachen riechen. Das Wort «riechen» hat mich überrascht, aber: Er hatte recht. Wenn man Lewinsky heisst und im Film und Fernsehen tätig ist, Micha, dann ist der Vater nie weit, oder? Micha L.: Ja. Ich bin der Sohn. Das ist normal für mich. Aber es ist natürlich aufregender, in der Zeitung zu sein wegen der Inhalte und nicht wegen dem, wofür ich nichts kann. Charles L.: Mich hat es sehr gefreut, als eine junge Frau mich mal nach einer Lesung mit grossen Augen gefragt hat: Sind Sie etwa verwandt mit dem Regisseur Micha Lewinsky? Charles Lewinskys Roman «Melnitz» ist ein Bestseller. Würden Sie ihn nicht gerne verfilmen, Micha? Charles L.: Es fehlt nur noch eine Kleinigkeit. Was? Charles L.: 10 Millionen Franken. Falls Sie die gerade im Sack haben, können wir loslegen. Micha L.: Eher 20 Millionen! Aber für die Schweiz ist dieser Film, der zu einem guten Teil im 19. Jahrhundert spielt, schlichtweg nicht finanzierbar. Schade. Draussen vor der TürPublikumsliebling Hanspeter Müller-Drossaart («Sennentuntschi») spielt in den AbstimmungsKurzfilmen

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