March 2013

Sloterdijk auf dem Monte Verità

Sloterdijk auf dem Monte Verità Ewa Hess | 29. März 2013 – 07:34 «Hier genügte es, nackt zu tanzen»: Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk über den Monte Verità als Utopie und die Schweiz als Mätresse Europas. Ich traf den brillanten Provokateur in Ascona. Auf dem Weg von Ascona auf den Monte Verità begrüsst der Philosoph ihm vertraute Orte wie alte Bekannte und erzählt mir davon: In diesem Kirchlein habe er mal ein Konzert gehört, dort sei er mit dem Fahrrad hochgeradelt, nach dieser Kurve öffne sich der überwältigende Blick ins Tal. Bei der letzten Wegbiegung bleibt unser Kleinbus stehen, wir nehmen noch zwei winkende Wanderer auf: Es ist der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, 83, und seine Frau. Man kennt sich, die Begrüssung ist herzlich. Im Bus sitzen schon nebst Sloterdijk die Schriftsteller Wladimir Sorokin und Mathias Énard. Wir sind unterwegs zum dritten Tag des neuen Literaturfestivals «Primavera Ticinese» in und um Ascona. Ausgerechnet auf dem legendären Monte Verità, wo am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Gemeinschaft von Bohémiens die Utopie des natürlichen Lebens zu verwirklichen suchte, spricht Sloterdijk, 65, der seit Erscheinen seines epochalen Werks «Kritik der zynischen Vernunft» 1983 zu den Koryphäen des internationalen Geisteslebens gehört, über das Thema «Warum Utopien scheitern» (der Vortrag findet am Sonntag, 31.3.2013, um 17 Uhr statt). Ich darf ihn schon vorher zum Thema befragen. Herr Sloterdijk, warum scheitern Utopien? Der Titel des Referats ist etwas irreführend. Unerfüllbarkeit gehört zur Utopie als solcher. Daher kann man nicht sagen, dass die Utopien scheitern. Projekte können scheitern oder Erfolg haben, Utopien nicht. Was ist der Unterschied? Projekte sind Pläne, und bei der Durchführung von Plänen kommt es praktisch immer anders, als man dachte. Es ist ein Teil der heute herrschenden Konfusion, dass man den Unterschied zwischen Projekt und Utopie nicht mehr versteht. War der Monte Verità eine Utopie oder ein Projekt? Die Lebensversuche von Ascona um 1905 stellten ein vages Projekt dar. An echten Utopien kennt Europa nur zwei Archetypen – Arkadien und Amerika. Ascona war weder das eine noch das andere, sondern ein lebensreformerisches Experiment. Immerhin, in Ascona und im Isartal südlich von München wurde der Nudismus geboren. Hier praktizierte man zuerst die Sonnenanbetung, die hundert Jahre später zu einer populären Religion wurde. Nackt unter der Sonne – das klingt doch nach Arkadien, dem mythischen Naturparadies. Die Ascona-Leute waren utopisch bewegt. Sie suchten die Synthese aus Arkadien und Amerika. Die Brissagoinseln waren ein Garten der Freuden, gleichzeitig stellten sie den Ort am anderen Ufer en miniature dar. Die Utopie ist eine Insel? Ohne Insulation ist die Utopie nicht zu denken. Wer die glückliche Insel erreichen will, muss das Schiff besteigen und bei der Überfahrt sein Leben wagen. Das haben die Emigranten nach Amerika im 16., 17. und 18. Jahrhundert tatsächlich getan. Kein Mensch von heute könnte sich vorstellen, mit den damaligen Schiffen das andere Ufer des Atlantiks zu suchen. Ausser, wenn unbekannte Prämien lockten. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn man wirklich glaubt, es lägen dort drüben Glücksgüter bereit, die man sich ohne Arbeit aneignen kann, dann wagt man den Aufbruch gegen alle Bedenken. Amerika war anfangs ein Kontinent, der den Europäern wie eine einzige grosse Schatzinsel erschien – das liefert die ökonomische Komponente des Inseltraums. An den Inseln Europas konnte man besser die erotische Traumkomponente festmachen. Sie kennen doch die «Einschiffung nach Kythera?» Das Gemälde des französischen Malers Antoine Watteau? Es zeigt den Archetypus der galanten Utopie in Vollendung. Besonders schön scheint mir die dritte, die Berliner Version des Gemäldes von 1717. Man sieht darauf elegante junge Menschen an einem Ufer, abfahrbereit, im fernen Hintergrund erahnt man die Konturen der Insel der Liebesgöttin. Der Aufbruch dorthin ist die wahre Utopie, denn die Liebe auf dem Festland soll von der Liebe auf der Insel träumen. Nur dort sammelte man die Kraft, so zu tun, als fände man den anderen immer grenzenlos interessant. Aber Schätze warten in Amerika kaum noch auf den Besucher. Die Amerikaner haben ihren Traum entzaubert, weil sie die Schatzsuche in Arbeit übergeführt haben. Sie haben aus dem Schatzsucher den Selfmademan gemacht. Die Amerikaner sagen: Reichtum ja, aber durch Arbeit. Das ist enttäuschend für alle, die sich am Schatzinsel-Pol der Utopie orientierten, wie so viele Besucher Asconas von einst. Hier genügte es, nackt auf der Wiese zu tanzen, und der neue Mensch sollte vom Himmel steigen. Die ursprüngliche Utopia im Roman von Thomas Morus war allerdings kein Schlaraffenland, sondern so etwas wie eine gut durchorganisierte Schweiz. Vergessen wir nicht: Die Utopie als neuzeitliches literarisches Genre gehört zum Korruptesten, was die Geschichte der Literatur kennt. Sie malt alternative Welten aus, die ihre realen Kosten systematisch auslagern und verschweigen. Ob dies etwas mit dem Modus vivendi der Schweiz zu tun hat, kann ich nicht beurteilen, ich hoffe nicht, ich finde die Schweiz ein sympathisches politisches Konstrukt. Sie haben einmal gesagt, die globalisierte Welt gleiche einem grosshelvetischen Experiment. Meinten Sie das positiv oder negativ? Ich bezog diese Äusserung auf das vereinte Europa, das unter günstigeren Umständen tatsächlich eine Wiederholung der Schweiz in vergrössertem Massstab hätte werden können. Durch die Einführung der gemeinsamen Währung hat es seine historischen Chancen vorerst zerstört. Eine vernichtende Diagnose. Nur eine nüchterne. Hysterie ist in Europa nicht am Platz. Scheitert der Euro, wird man eine andere Währung probieren, irgendetwas auf halbem Weg zwischen gemeinsam und getrennt. Aber grosshelvetische Verhältnisse wären für Europa wunderschön gewesen. Warum? Weil die Kantonisierung der Nationen eine im Höchstmass begrüssenswerte Entwicklung darstellt. Der Kanton ist eine halbautonome Struktur, die zwischen Selbstsorge und Mitarbeit balanciert, und Halbautonomie wäre genau das Wort, das wir jetzt positiv besetzen müssten, um uns politisch zu reorientieren. Sie nehmen Abschied von der nationalen Struktur? Nein, die Nationen werden für die Europäer noch lange die bevorzugten Gehäuse des politischen Lebens bleiben. Aber die alten Vorstellungen von nationaler Souveränität verlieren an Plausibilität. In der Schweiz heisst das Volk der Souverän. So heissen die Völker inzwischen überall, gerade, wo sie progressiv entmündigt werden. Die Realpolitik kann im Augenblick mit den Völkern nichts mehr anfangen. Weshalb diese Pattsituation? Wahrscheinlich rührt das Unbehagen in der grossen Politik daher,

Sloterdijk auf dem Monte Verità Read More »

Martigny mon amour

Martigny mon amour Ewa Hess | 20. Mai 2013 – 23:05 Der Künstler Valentin Carron wird bald die Schweiz in Venedig vertreten – ich durfte ihn in seiner Walliser Heimat besuchen und einen fiebrigen Frühlingstag lang sein Martigny kennenlernen. von Ewa Hess / Bild Fred Merz Die scharfe Frühlingssonne steht Martigny nicht. Unbarmherzig bringt sie die Ungereimtheiten des Ortes zum Vorschein. In den verdunkelten Scheiben von stillos modernen Bürohäusern spiegeln sich malerische Schneegipfel. Das Bahnhofsgebäude aus einem vergangenen Jahrhundert steht verloren zwischen chaotisch angeordneten Parkplatzparzellen. Putzige Ästhetik eines intakten Schweizer Städtchens trifft auf die Zersiedelungsspuren einesaggressiven Baubooms. Valentin Carron entsteigt seinem bequemen Familienauto mit der entspannten Lässigkeit eines Bewohners des amerikanischen Mittleren Westens. So, dass man sofort spürt, wie sehr dieses Auto sein Zuhause ist. Und diese Gegend sein Jagdrevier. Dabei könnte man meinen, der 36-jährige Künstler sei längst seiner Heimatgemeinde entwachsen. Sein Name wird in Paris, New York und London in Grossbuchstaben geschrieben. Er ist der aufstrebende Star der Schweizer Kunst. Geheimnisvoll, eigenwillig, unübersehbar. Vor zwei Jahren verblüffte er die Kunstwelt mit der im Pariser Palais de Tokyo ausgestellten Kunstharz-Replik einer Walliser Weinlaube. In zwei Wochen wird er die Schweiz an der Biennale der Kunst in Venedig vertreten. Doch stur wie ein echter Bergler bleibt Valentin Carron in Martigny wohnhaft. Nur von hier aus, das spürt man, sind diese rätselhaften Skulpturen zu verstehen. Sie nehmen Elemente der Landschaft und ihrer Bebauung auf. Oft sehen sie wie Bergkreuze oder wie Rauverputz-Wände aus. Sie gleichen manchmal den Pergolas, manchmal den Strassenlampen. Doch das ist noch lange nicht das Geheimnis ihrer Wirkung. Ihre Präsenz ist es. Dass sie mit einer archaischen Kraft aufgeladen sind, dem schwarzen Monolith aus Stanley Kubricks berühmten Film «2001: A Space Odyssey» vergleichbar. «Hier, wo ich aufgewachsen bin», setzt Carron zu einer Erklärung an, «komme ich mir vor wie ein Fremder.» So wie er es sagt, muss es etwas Gutes sein. Im Kopf sei er in Zürich, vielleicht in Genf oder Paris zu Hause. Martigny aber sei sein Beobachtungsposten. Denn nur hier gebe es diese Mischung von heimelig und unbehaust, die ein Symptom unserer Zeit sei. Martigny, das sei die westliche Welt in Miniatur. «Nur hier bin ich real», sagt Carron. Ob das ein glücklicher Zustand ist, traut man sich nicht zu fragen. Während wir unseren Allerwelts-Cappuccino im Strassencafé schlürfen, geht schnellen Schrittes Pascal Couchepin mit einem schwarzen Rucksack an uns vorbei. Auch er ein unbeirrbarer Bewohner von Martigny – und sein ehemaliger Bürgermeister. Carron schaut dem Ex-Bundesrat mit einem kleinen Lächeln nach. Es ist ein menschenfreundliches, wenn auch verschmitztes Lächeln. Eine Mischung aus Melancholie und Spott. Noch vor wenigen Jahren wäre es Couchepin gewesen, der den Schweizer Pavillon an der Biennale eröffnet hätte. Wäre das schön, so ein Martigny-Gipfeltreffen in Venedig? Diesmal gilt das spöttische Lächeln der Frage. Diejenigen, die vermutet haben, dass Carron in Venedig etwas besonders Auffälliges inszenieren würde, etwa ein Riesenkreuz, wie 2009 vor dem Eingang zur Art Basel, bleiben auf ihren Erwartungen sitzen. In Valentin Carrons Schweizer Pavillon wird zwar eine 80 Meter lange Schlange die Besucher begrüssen, doch ihr schmaler schmiedeeiserner Körper wird nur dezent den Raum zur Geltung bringen. In Bronze gegossene Musikinstrumente, verbeult, als ob sie schon Generationen von Familienmusikanten gedient hätten, werden die strenge Form des Pavillons brechen. Als Bildelemente installiert der Künstler Remakes von Glasfenstern aus den 50er-Jahren. Er habe viel zu viel Respekt vor der Kunst, sagt Carron, um allzu plakativ auf das Ereignis einer Wettbewerbssituation einzugehen. Stünde dieser Pavillon nicht in den Giardini von Venedig, wohin die ganze Welt guckt, sondern in einem Kunstzentrum in, sagen wir, Portugal, würde er seinen Auftritt auch nicht anders gestalten. Er wolle nur eines: dem schönen, von Albertos Bruder Bruno Giacometti erbauten Pavillon gerecht werden. Seine Form respektieren – und ihr gleichzeitig durch die beharrlich irritierende Form der Werke lautlos widersprechen. Respekt und Widerstand – es ist der gleiche Widerspruch, der bei einem Spaziergang auf dem Friedhof, einem seiner Lieblingsorte, im Blick des Künstlers aufscheint. Wir bleiben bei einem Grab stehen. «Marc Morand – Anwalt und Notar», verkündet die Inschrift, «Bürgermeister von Martigny 1921-1960. Oberst im Generalstab». «Das ist Martigny!», sagt Carron. «Diese Macht, dieser Einfluss, kann man sich das vorstellen?» Hier, auf dem Kirchenacker, inmitten all der Morands, Couchepins, Constantins und auch Gianaddas, merkt man, wie stark die Walliser Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht – die heutigen Patrons tragen die gleichen Namen. Einer von ihnen, der Immobiliengigant Léonard Gianadda, ist im Wallis auch der Chef eines Kunstimperiums. Wenn Martigny eine Miniatur der westlichen Welt ist, dann ist die Fondation Gianadda eine Miniatur von Martigny. Auch hier trifft man auf eine Mixtur nicht zueinanderpassender Elmente: wunderschöne Aussicht, undefinierbares Gebäude und ein Museum, in dem Oldtimer-Autos, gallo-römische Ausgrabungsrelikte und Weltklassekunst leicht windschief nebeneinander existieren. Die Begegnung zwischen Gianadda und Carron muss ein besonderes Spektakel geboten haben – hier der flamboyante Unternehmer und wenig Widerspruch duldende volkstümliche Philanthrop Gianadda, dort der spröde, aber auch ruhig selbstbewusste Kunststar einer intellektuellen Elite. Sie fand jedenfalls statt, diese Begegnung, und resultierte in einem 700 Kilogramm schweren Geschenk – an Martigny. Es ist eine Skulptur in Form einer Aluminiumsäule, viereinhalb Meter hoch, die sich spiralförmig mitten auf der Strasse erhebt und einen Verkehrskreisel in eine archaische Andachtsstätte verwandelt. Wie ein Relikt einer ausgestorbenen Zivilisation wirkt diese Säule, aus der Zeit gefallen, fremd. Die anderen vierzehn Kreisel, die Léonard Gianadda seiner Heimat geschenkt hat, sind wie die meisten Kreisel auf der Welt mit Skulpturen lokaler Grössen ausgestattet, ergänzt durch einen Minotaur Hans Ernis und eine Assemblage Bernhard Luginbühls. «Es war ein Angebot, das man nicht ausschlägt», erklärt Valentin Carron seine Zusage, sich in die Riege der Kreiselkünstler einzureihen, und wir lachen über die Formulierung, die in einen anderen Kontext gehört. Aber er will damit nicht auf Mafiafilme anspielen. Er meint es ernst. Die Anfrage auszuschlagen, wäre ihm feige vorgekommen. Er wollte das gerne machen, für Martigny. Jetzt steht das Werk mitten auf jener Strasse, die nach Fully führt. Dort wurde er geboren. In Fully hatte die Familie des Künstlers ein Cheminée-Geschäft. Hier hat Carron als Kind

Martigny mon amour Read More »