September 2013

Identitätsklau nach Kleist

Identitätsklau nach Kleist Ewa Hess | 29. September 2013 – 12:06 Amphitryon und sein Doppelgänger – Mit Hilfe von Kleist erzählt Karin Henkel am Zürcher Schauspielhaus vom Identitätskollaps im Zeitalter von Facebook und Co. Eine furiose Aufführung, die mich berührt hat, weil sie den Wahnsinn des Stücks ganz sec zeigt, ohne Pathos, ohne brutal oder auch nur lärmoyant zu werden. Zürich, 28. September 2013. Diese verfluchten Identitäten schießen wie Pilze aus dem Boden. Oder der Wind bläst sie durch die Türe ins Haus. Sie bilden Grüppchen. Manchmal auch Schlägertrüppchen! Dann gucken sie wieder ganz possierlich, so mir nichts, dir nichts, über die Möbelkanten hinweg.Da kann sich Sosias noch so oft vorsagen, dass er ein Mensch sei, einer, der von daher kommt und dorthin geht. Im Spiegelkabinett der wild wuchernden Identitäten kommt ihm der Sinn für alles Zielgerichtete abhanden. Und nicht nur ihm, dem treuen Diener. Auch seinem Herrn Amphitryon, gerade noch mit Siegerschritt nach Hause eilend, wird es blümerant. Das Ziel aller Ziele, die Liebeszuflucht am Herzen der Gattin, ist schon besetzt – von einem wie er.Bodenlose Ratlosigkeit ist der Stoff, aus dem Heinrich von Kleists Molière-Bearbeitung aus dem Jahr 1807 eh schon gestrickt ist. Der melancholische Berliner macht aus der frivolen Verwechslungskomödie ein Drama der Identitätsverwirrung, als das sein „Amphitryon“ in die Theatergeschichte eingeht. Die Sachlage selbst überliefert die griechische Mythologie so: Jupiter, der Schürzenjäger, hat sein Auge auf Alkmene geworfen. Um die treue Ehefrau zu verführen, schlüpft er in die Gestalt des thebanischen Generals Amphitryon. In der Nacht bevor der Kriegsheld nach Hause kommt, liegt der Gott in den Armen der nichts ahnenden Schönen und betrügt den Heimkehrer um die süßesten Stunden. Verdoppelt, verdreifach, vervielfacht Was noch die gegenwärtige Schauspielhaus-Intendantin Barbara Frey in ihrer Basler Inszenierung von 2003 als eine Männerkumpelei und Götterboshaftigkeit darstellte, modernisiert Karin Henkel jetzt zu einem wahren Identitätskollaps. Vor der aufdringlichen Verdoppelung, Verdreifachung und Vervielfältigung ist in dieser furiosen Inszenierung niemand und nichts gefeit. Selbst der Text – er folgt Kleists Originalfassung sehr frei, doch erkennbar – scheint sich da und dort in einer Endlosschleife zu verfangen. Es ist immer ein kleiner Glücksfall, wenn der Dialog der Wiederholung entkommt und die Handlung weitergeht.Auf einer wirkungsvoll simplen Bühne von Henrike Engel (die allerdings – wie könnte es anders sein? – sich zweistöckig verdoppeln kann) und mit Hilfe von insgesamt vier Kostüm-Uniformen (Klaus Bruns) entfesseln fünf Darsteller ein unübersichtliches Figurengemenge. Jeder kann da schnell in die Rolle des anderen schlüpfen, mal Sosias, mal seine Frau Charis sein, ungeachtet der Brüste oder Bärte. Stupend, wie es Henkel und ihrem kleinen Ensemble gelingt, Kleist als einen Visionär zu zeigen, der die Tragikomödie des Identitätsklaus erahnte – lange vor dem Aufkommen der gottgleichen Technologie, der strukturellen Voraussetzung dazu. Schlamassel der sozialen Netzwerke Ganz ohne Mätzchen und plumpe Metaphern bringt Henkel das ganze slapstickhafte Schlamassel der sozialen und anderen Netzwerke, in welchen wir heute zappeln, als Assoziationsraum mit auf die Bühne. Jede ihrer Figuren unternimmt, unseren Profilen und Avatars ähnlich, ebenso rührende wie vergebliche Anstrengungen, sich als ein „Ich“ zu etablieren. Gegen Schluss greift jene Schauspielerin, die oft Charis ist, zu einer radikalen Maßnahme, indem sie ihren wahren Namen nennt. Ihren wahren Namen? Oops, nein. Denn sie heißt Marie Rosa Tietjen – gibt aber unumwunden zu, Carolin Conrad zu sein, also ihre oft Sosias spielende Kollegin.Sie spielen alle brillant. Und es ist eine enorme Leistung, denn mit all den Text- und Figurenverwerfungen ist es ein Mosaik aus Körpern und Worten, in welches sich die Einzelnen einfügen müssen – mal in dieser, mal in einer anderen Formation, synchron und dann wieder solo. Das wirkt dennoch keine Sekunde angestrengt, im Gegenteil, immer kindlich verspielt. Die wunderbaren Bühneneinfälle, Karin Henkels Markenzeichen – falls man bei dieser so wandelbaren Regisseurin überhaupt von einem sprechen kann – funktionieren ohne Fehl. Hüte fliegen, Mäntel flattern, und auch mit einem alten Fauteuil lässt sich allerhand anstellen.Dass die einzelnen Schauspieler bei diesem Konzept dennoch so etwas wie einen glaubhaften Charakterkern entwickeln, grenzt schon fast an ein Wunder. Aber der hinreißende Michael Neuenschwander ist am Ende der bodenständige Kriegsheld, man erkennt in ihm Amphitryon, da kann er in andere Kleider schlüpfen und Etiketten tauschen, so viel er will. Fritz Fennes Jupiter sitzt ihm ebenso in den immer tanzbereiten langen Beinen wie in der eitlen Argumentation, die ihm immer wieder auf die Zunge kriecht. Tietjen und Conrad sind unermüdlich, die beiden Frauen sprechen, springen und wechseln Kostüme mit einem Tempo, das einem den Atem verschlägt – der Inszenierung so inbrünstig dienstbar, wie es Sosias und Charis dem Königspaar sind. Und mit Lena Schwarzs beherzt verzweifelnder Alkmene bekommt der Zürcher „Amphitryon“ auch jene tragische Tiefe, ohne die das kurze intensive Stück kein echter „Amphitryon“ wäre. Ach! Amphitryon und sein Doppelgängernach Heinrich von KleistRegie: Karin Henkel, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Tomek Kolczynski, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.Mit: Carolin Conrad, Fritz Fenne, Michael Neuenschwander, Lena Schwarz, Marie Rosa Tietjen.Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause www.schauspielhaus.ch Veröffentlicht am morgen des 29.9.2013 auf nachtkritik.de About Ewa HessSwiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, ZürichView all posts by Ewa Hess » @askewa @PSPresseschau Wunderbares textlein 🍀 thx 4 sharing 08:10:37 PM Mai 30, 2023 von &s in Antwort auf PSPresseschau@GESDA Hackathon 4 the future – Open Quantum Institute in the making. Impressive! https://t.co/hWBdlsEFkd 09:35:19 AM Mai 07, 2023 von &s in Antwort auf GesdaIt’s my #Twitterversary! I have been on Twitter for 13 years, since 26 Nov 2009 (via @twi_age). 01:00:51 AM Dezember 13, 2022 von &s @askewa folgen Neueste Beiträge Baselitz‘ WeltI likePrivate Sales, ein SchattenspielAdieu John BergerTalk mit Jacqueline Burckhardt Blogroll FAQNews-BlogPop MattersRevue 21Support ForumWordPress-Planet Themen Ai Weiwei Amerika Andy Warhol Aphrodite Ascona Baron Heinrich Thyssen Basel Biennale Venedig Bird’s Nest Caravaggio China Fischli/Weiss Fondation Beyeler Frank Gehry Georg Baselitz Gerhard Richter Ghirlandaio Gstaad Gurlitt Gustav Klimt Harald Szeemann Keanu Reeves Kunst Kunstmuseum Basel Louise Bourgeois Maja Hoffmann Maria Lassnig Marlene Dumas Melinda Nadj Abonji Monte Verità Nachtkritik Oprah Winfrey Pipilotti Rist Schweizer Architektur Schweizer Film Schweizer Kunst Schweizer Literatur Shakespeare Simon de Pury Thomas Hirschhorn Ugo Rondinone Urs Fischer Valentin Carron Warhol

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Basler Atomreaktor

Basler Atomreaktor Ewa Hess | 1. September 2013 – 16:32 Die Basler Ausstellung Mondrian-Newman-Flavin elektrisiert mich im Voraus. Ich erwarte, dass es die spannendste Ausstellung der Saison wird. Eine ruhige dennoch unüberhörbare Intervention, die mitten in der Geschwätzigkeit der Gegenwartskunst wie eine Detonation hochgeht. (Irgendwie werde ich im Zusammenhang mit dieser doch durch und durch friedlichen Ausstellung die Kriegsterminologie nicht los. Schon im SonntagsZeitungs-Artikel sprach ich vom Atomreaktor.) Mondrian und Newman… Die haben vielleicht schon etwas von Kreuzrittern? Hier der SoZ-Text: KUNST AUF DIÄT Das Kunstmuseum Basel zeigt drei Visionäre, die mit ihrer Askese nicht nur die Kunst, sondern auch die Welt erneuerten Von Ewa Hess Das Kunstmuseum Basel begibt sich unerschrocken in karge Gefilde. Mit der Ausstellung «Mondrian, Newman, Flavin» zeigt es ab nächsten Sonntag drei der sprödesten Künstlerpersönlichkeiten der letzten zwei Jahrhunderte, vielleicht auch der Kunstgeschichte überhaupt. Piet Mondrian, Barnett Newman und Dan Flavin haben – jeder auf seine Weise – die Kunst auf Abmagerungsdiät gesetzt. Doch so karg ihre Formensprache auch sein mag, die Intensität ihrer Werke ist umso grösser. Die mit Spannung erwartete Ausstellung ist so etwas wie ein künstlerischer Atomreaktor. Unter der stillen Oberfläche der Werke vibriert gefährliche Energie. In nur drei aufeinanderfolgenden Generationen haben Piet Mondrian, Barnett Newman und Dan Flavin die Kunst beinahe abgeschafft. Und ihr damit eine neue Freiheit geschenkt. Dass der Kunstmuseum-Direktor und Kurator der Schau, Bernhard Mendes Bürgi, gerade diese drei auswählt, um eine zentrale Geschichte der Moderne zu erzählen, ist raffiniert. Er hätte ja auch Kandinsky, Picasso und Warhol zeigen können. Auch von diesen Künstlern besitzt das Basler Haus gute Werke, die, um Leihgaben ergänzt, eine tolle Schau ergäben. Dank den besessenen Asketen Mondrian, Newman und Flavin weitet sich allerdings das Thema. Mit ihnen steht nicht nur die Kunstgeschichte im Zentrum, sondern die Sinngebung der ganzen Gesellschaft. MONDRIANS VIERECKE Nach dem grossen Blutvergiessen des Ersten Weltkriegs wollte Piet Mondrian der Menschheit zu einem neuen Anfang verhelfen. Ihm schwebte eine Kunst vor, die nicht die Differenzen zwischen den Menschen betonen würde, sondern das Verbindende: ein universelles Regelwerk. Darum reduzierte er seine Mittel auf Farbe, Form, Linie und Raum. Er beschränkte sich dabei auf die Primärfarben Rot, Blau und Gelb und wechselte lediglich zwischen zwei geometrischen Formen: Quadrat und Rechteck. Auch verwendete er ausschliesslich senkrechte und waagrechte Linien. Wahre Freiheit war für Mondrian nicht Gleichheit, sondern das Gleichgewicht. Seine asymmetrischen Kompositionen ins Gleichgewicht zu bringen, das betrachtete er als seine grösste Herausforderung. Er suchte die reinste Form der abstrakten Kunst. Die Kraft seiner ästhetischen Vision beeinflusste vor allem die Architektur- und Designwelt. Yves Saint Laurent, der ihn verehrte und vier seiner Bilder besass, sagte einmal: «Weiter kann man in der Malerei nicht gehen.» NEWMANS REISSVERSCHLÜSSE Das sah der Amerikaner Barnett Newman ganz anders. Auch er suchte ein universelles Konzept, welches über die Kunst hinausweist, doch ihm war das geometrische Korsett Mondrians zu eng. Per Zufall fand er an seinem 43. Geburtstag, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Lösung. Anstatt das auf die bereits bemalte Leinwand aufgeklebte Klebeband zu entfernen, schmierte er Farbe drauf. So entstand der erste «zip» (engl. für Reissverschluss). Fortan malte Newman immer so. Er trennte die homogenen Farbflächen mit vertikalen Linien, die für ihn ein Symbol für den höheren Sinn waren. Diese Linien machten nicht nur die Bilder komplett. Sie waren auch so etwas wie Öffnungen oder Startbahnen, dank welchen der Betrachter an einer erhabenen Erfahrung teilhaben konnte. FLAVINS LEUCHTSTOFFRÖHREN Das Licht war schon immer ein Element der Malerei. Wenig verwunderlich also, dass der Minimalist Dan Flavin auf seiner Suche nach einer weiteren Befreiung der Kunst auf fluoreszierende Leuchtröhren stiess. Er legte sich die Regel auf, nur handelsübliche Formen und Farben zu verwenden. Wie alle Künstler der Minimal Art bestand Flavin darauf, dass sein Werk keine versteckten Bedeutungen enthielt. Dennoch betrachtete er seine Skulpturen als Ikonen, die «begrenzte Erleuchtung» spenden. Seine Werke verschmelzen manchmal so diskret mit der Umgebung, dass sie gar nicht wie Kunst wirken. Andere wiederum ziehen Besucher, wie Insekten, magisch an. Populär war Flavins Leuchtröhren-Kunst immer. In der letzten Zeit erfährt sein Werk eine weitere Aufwertung. Diese zeigt auch sein Einschluss in das in Basel gefeierte Heldentrio der asketischen Moderne. Kunstmuseum Basel, «Mondrian – Newman – Flavin», 8.9. bis 19.1.2014www.kunstmuseumbasel.ch Publiziert am 01.09.2013 About Ewa HessSwiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, ZürichView all posts by Ewa Hess » @askewa @PSPresseschau Wunderbares textlein 🍀 thx 4 sharing 08:10:37 PM Mai 30, 2023 von &s in Antwort auf PSPresseschau@GESDA Hackathon 4 the future – Open Quantum Institute in the making. Impressive! https://t.co/hWBdlsEFkd 09:35:19 AM Mai 07, 2023 von &s in Antwort auf GesdaIt’s my #Twitterversary! I have been on Twitter for 13 years, since 26 Nov 2009 (via @twi_age). 01:00:51 AM Dezember 13, 2022 von &s @askewa folgen Neueste Beiträge Baselitz‘ WeltI likePrivate Sales, ein SchattenspielAdieu John BergerTalk mit Jacqueline Burckhardt Blogroll FAQNews-BlogPop MattersRevue 21Support ForumWordPress-Planet Themen Ai Weiwei Amerika Andy Warhol Aphrodite Ascona Baron Heinrich Thyssen Basel Biennale Venedig Bird’s Nest Caravaggio China Fischli/Weiss Fondation Beyeler Frank Gehry Georg Baselitz Gerhard Richter Ghirlandaio Gstaad Gurlitt Gustav Klimt Harald Szeemann Keanu Reeves Kunst Kunstmuseum Basel Louise Bourgeois Maja Hoffmann Maria Lassnig Marlene Dumas Melinda Nadj Abonji Monte Verità Nachtkritik Oprah Winfrey Pipilotti Rist Schweizer Architektur Schweizer Film Schweizer Kunst Schweizer Literatur Shakespeare Simon de Pury Thomas Hirschhorn Ugo Rondinone Urs Fischer Valentin Carron Warhol Weltwoche Next Post Schreibe einen Kommentar Cancel Reply Logged in as Ewa Hess. 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