February 2015

Pamela Rosenkranz

Pamela Rosenkranz Ewa Hess | 28. April 2015 – 11:05 Nein, aus dem Schweizer Pavillon blubbert nichts heraus. Ein verstohlener Blick auf das noch nicht fürs Publikum zugängliche Gelände der Biennale bestätigt es. Der Backsteinbau im Eingangsbereich der Giardini sieht aus wie immer: unauffällig. Keine Spur von den geheimen Mixturen, die Pamela Rosenkranz, unsere Frau in Venedig, darin anrichtet. Aus dem Schatten der Bäume in der Parkallee, in der eine emsige Geschäftigkeit herrscht, löst sich eine schmale Frauengestalt, und Pamela Rosenkranz kommt uns entgegen. Es ist Mittagszeit in Venedig, es riecht nach Pasta mit Sugo. Die Künstlerin zieht ihre dunkelblaue Jacke enger um die Schultern, sie scheint an diesem warmen Apriltag zu frösteln. Die Konzentration auf die Arbeit umgibt sie wie eine kalte Seifenblase. Kaum sind unsere Primi und Secondi in einer kleinen Trattoria bestellt, kommt das Gespräch aufs Produkt. «Unser Produkt». Die hautfarbene Masse. «Our Product», so heisst Pamela Rosenkranzs Arbeit in Venedig. Gerade sie, die in der Gemeinde der jungen Post-Internet Künstler als spröde Wissenschaftlerin auffällt, wird den nüchternen Schweizer Pavillon mit einer sinnlich wogenden Installation konfrontieren. Dabei hat es der Schweizer Pavillon in Venedig den Künstlern nie leicht gemacht. Das Bauwerk von Albertos jüngstem Bruder ­­ Bruno Giacometti aus den 1950er-Jahren ist zwar die Ruhe selbst: drei Räume und ein Innenhof, mit gekonnt gebrochenem Tageslicht ausgestattet. Der Bau appelliert an das Gefühl der Bescheidenheit, wohl darum greifen ihn selbst provokante Künstler nur selten frontal an. Thomas Hirschhorn hat hier vor vier Jahren eine hochkomische Tropfsteinhöhle aus Wattestäbchen und Alufolie eingerichtet. ­Valentin Carron, der Star aus der Romandie, fügte sich vor zwei ­Jahren der Schönheit der Räume mit einem ruhigen Ensemble. Die perfekte Metapher: Der Mensch als Ursuppe Mit ihrem unheimlichen Labor voll hautfarbener Unappetitlichkeiten macht nun die junge Künstlerin so etwas wie eine Hexenküche auf im ehrwürdigen Schweizer Häuschen. Am Anfang ihrer Arbeit in Venedig stand allerdings ein Gedicht: «Monalin – Moriosyl – Morium», murmelt sie jetzt einige Wörter daraus, während wir auf den Fisch warten, «Mylium – Mymone – Nanindor». Sind das unbekannte Botenstoffe? So etwas wie Serotonin, Noradrenalin, Insulin? Naive Frage meinerseits, die mit einem Anflug von Lächeln belohnt wird. Natürlich nicht. «Das ist das lexikalische Feld der Arbeit», sagt sie. Hunderte dieser Wörter hat sie ersonnen, um das Produkt zu definieren. Sie hat den Hautton des durchschnittlichen Europäers errechnet, Pigmente angerührt, die Formulierung für eine zähe Flüssigkeit daraus abgeleitet, die sie noch mit echten Ingredienzen anreichern will. Bald wird sie all das vor Ort zu einem Exponat mischen, dessen wellenartig bewegte Masse den ganzen Raum füllt. Maschinell mahlender Sound und eigens entworfene Gerüche machen die Metapher perfekt: der Mensch als Ursuppe. «Vielleicht Ursuppe» sagt Rosenkranz. «Oder aber nicht Suppe, sondern das Wasser von San Lorenzo», sagt sie und hebt den Blick. Sie hat sich nun warmgeredet. Pamela Rosenkranz erzählt mir von ihrer venezianischen Inspiration. «Miracolo della croce caduta nel canale di San Lorenzo» heisst das Bild. Das in der Accademia ausgestellte Gemälde zeigt eine Szene aus dem mittelalterlichen Venedig. Das Kreuz, eine heilige Reliquie mit einem Splitter des echten Kreuzes Jesu, ist ins Wasser gefallen. Die umstehenden Menschen – es ist eine ansehnliche Menge – sind vor Schrecken erstarrt. Einige versuchen es zu retten. Ein venezianischer «Mohr» hat sich schon ausgezogen, um ins Wasser zu springen. Doch der Ordensvorsteher Andrea Vendramin (er hat das Bild beim Maler Gentile Bellini bestellt) ist schneller, er hält das Allerheiligste bereits sicher in der Hand und trägt es ans Land. «Ähnlich wundersame Wirkung wie damals von den Reliquien, erhofft man sich heute von Lebensmitteln oder Medikamenten», sagt die Schöpferin der modernen Ursuppe. Wir denken beide, schweigend, an ein bestimmtes Süssgetränk, das Flügel verleihen soll. Früh stürzte sie sich in die Geheimnisse der Life-Sciences Als eine platte Kritik an kapitalistischer Lebensvermarktung will Rosenkranz ihre Kunst dennoch nicht verstanden wissen. «Eine platte schon gar nicht», sagt sie schnippisch und zeigt wieder ein kleines Lächeln. Auswüchse des kapitalistischen Übergriffs auf die menschliche Integrität machen ihr trotzdem, wie jedem, Sorgen. «Wenn man anfängt, Brustkrebsgene zu patentieren, könnte es in einer nächsten Phase geschehen, dass ökonomische Interessen die Ärzte an der Lebensrettung hindern», sagt sie. Dagegen aufzurütteln sieht sie aber nicht als die Aufgabe ihrer Kunst an. Das stimmt zwar, sie stellt das Menschliche auf eine inhumane Art dar («Inhuman» hiess etwa die Ausstellung im Fridericianum in Kassel, bei der sie bereits mit der Kuratorin Susanne Pfeffer zusammengearbeitet hat, die auch den Schweizer ­Pavillon kuratiert) – aber sind wir Menschen nicht wirklich auch als die Summe von Farben, Ingredienzen und Ein­flüssen zu verstehen? Die blitzgescheite Tochter eines Juristen und einer Physiotherapeutin aus Spiez stürzte sich früh in die Geheimnisse der zeitgleich mit ihr aufblühenden Life-Sciences: Neurowissenschaft, Biochemie, Genetik. Auch heute verschlingt Pamela Rosenkranz wissenschaftliche Essays wie andere Romane. Sie ist mit Wissenschafts­philosophen wie Reza Negarestani befreundet, auch ihr Mann ist einer. Sie ist ein ernstes Geschöpf, diese 35-jährige Absolventin der Berner Kunstschule mit dem Namen einer Bühnenheldin (wir erinnern uns an Hamlets Schulfreunde Rosencrantz und Guildenstern). Es ist ihr echter Name, der ihres Vaters, den sie in einem Anflug von neckischer Zärtlichkeit als den «Woody Allen des Berner Oberlandes» bezeichnet. Momente, in denen sie etwas von ihrem Innenleben zeigt, sind sonst selten. In ihrer logischen und rationellen Art ähnelt Pamela Rosenkranz meist ein bisschen der schönen Replikantin aus Ridley Scotts Kultfilm «Blade Runner» – man meint während des Gesprächs, die Rechenleistung des Computers hinter der Stirn leicht surren zu hören. «Rational bin ich eigentlich nicht», sagt sie jetzt, wie stets um höchste linguistische Präzision bemüht, «cerebral triffts besser.» Wenn so viele sie gut finden, ist sie wohl auch gut Diese Wesensart muss als Erklärung dafür herhalten, dass gerade jetzt, im Vorfeld der Biennale, Medienstimmen laut werden, die Pamela Rosenkranz eine berechnende «Blitzkarriere» hämisch zur Last legen. Sie sei eine «strategische Netzwerkerin» (schreibt «Die Zeit»), «Karriere nach Masterplan» bescheinigt ihr die «Schweiz am Sonntag». Tatsächlich hat die wegweisende Arbeit der jungen Frau schon früh Eingang in zeitkritische Gruppenschauen gefunden: Berlin Biennale, Manifesta, Kunsthallen in der Schweiz und weltweit, Swiss Insititute New York …

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Marlene zweifelt, grandios

Marlene zweifelt, grandios Ewa Hess | 28. Mai 2015 – 06:36 Die Südafrikanerin Marlene Dumas, eine Kaskade blonder Locken, wogende weiche Brust und ansteckendes Kichern, ist die Malerfürstin unserer Zeit. Oder das Nächste, was an die Bezeichnung herankommt. Ich durfte sie im Vorfeld ihrer grossen Ausstellung in der Fondation Beyeler in London treffen – hier mein Bericht. Männliche Malerfürsten kennt man – mit wenigen Ausnahmen kommen sie aus Deutschland: Gerhard Richter, ­Georg Baselitz, Markus Lüpertz. Sie sind virtuos, selbstsicher, haben eine imperiale Malgeste und sagen Sachen wie kürzlich Baselitz dem «Spiegel»: dass die Frauen nicht malen können. Nun, diese eine kann. Darüber gibt es keinen Zweifel. Selbst bei ihren Kritikern nicht. Ihr virtuoser Strich, die mühelose Beherrschung der Farbe, die schnellen Wechsel zwischen Tusche, Öl, Acryl, Aquarell, wobei Öl nicht selten wie Aquarell aussehen kann, die stupende Verwandlung der medialen Bilderflut in Tableaus von existenzieller Tiefe – darin gleicht Mar­lene Dumas vielleicht am ehesten dem grossen Gerhard Richter, dass sie das alles nur so aus dem Pinsel schütteln kann. Die grossen Retrospektiven der letzten Jahre haben ein Land nach dem anderen in den Zustand der Be- und auch Verwunderung über ihre beflügelte Fertigkeit versetzt. Die, welche in zwei Wochen in die Fondation Beyeler kommt, war schon (leicht anders) in Amsterdam und in der Tate ­Modern in London zu sehen. Sammler halten an ihren Werken mit religiösem Eifer fest «Oh, nein, nein», ruft Marlene Dumas bei unserem Treffen in einem Londoner Café unweit der Tate und schüttelt ihre unbändigbare Mähne. «Nennen Sie mich nicht Meisterin! Vor jedem neuem Werk stehe ich perplex da und weiss nicht, wo beginnen.» Und dann lacht sie, als ob sie mir gerade einen guten Witz erzählt hätte. «Wenn man erst tot ist, scheint alles so wunderbar logisch, solange man aber lebt …» sie winkt ab, «… it is a mess, a mess!», ruft sie dann laut, bis sich die Köpfe nach uns umdrehen. Ihr südafrikanisch gefärbtes Englisch wärmt, die sorglose Herzlichkeit auch. «A mess», das heisst Chaos, denkt man, der Urzustand, aus dem alles Leben entstand. Nichts bereitet einen weniger vor auf die quirlige Lebhaftigkeit von Marlene Dumas’ Person als ihre Werke. Sie sind weder unordentlich noch üppig. Auch nicht fröhlich. Der Humor, der hie und da vorkommt, ist eher schwarzer oder derber Art. Und doch treffen einen ihre Bilder mitten ins Gesicht. Sie erschüttern jede Gewissheit – was ist gut, was ist böse? Wozu sind wir auf dieser Erde? Und warum so kurz? Veronikas Schweisstuch mit dem Gesichtsabdruck Jesu stellt man sich so wie diese Bilder vor. Die Farbe wässrig, die Linie rudimentär, der Ausdruck aufs Wesentliche reduziert. Eine trauerlose Ahnung des Todes schlummert in all diesen Porträts, Figuren, Szenen, auch wenn sie handfeste Erotik ausstrahlen. Kein Wunder, halten Sammler von Marlene Dumas’ Werken an ihrem Besitz mit religiösem Eifer fest. Sotheby’s gibt selbst zu, 5 Millionen Pfund Garantie einem Privatsammler für ein Werk geboten zu haben – vergeblich. Wenn mal etwas versteigert wird, bricht es schnell Rekorde. Wie «The Visitor» 2008, das sie mit 3,1 Millionen Dollar Zuschlagpreis kurz zur teuersten lebenden Künstlerin machte. Inzwischen ist sie die drittteuerste – nach Yayoi Kusama und Cady Noland. Malt man so wie Dumas, wenn man mitten in der Apartheid in Südafrika aufgewachsen ist? Die 61-Jährige lebt erst seit den 1970er-Jahren in Holland. «In Südafrika», antwortet Dumas nachdenklich, «blieb vieles unausgesprochen. Das war das Schwierige.» Dann zieht sie ein Buch hervor, in dem sie einst schrieb: «Südafrika ist mein Inhalt, Holland ist meine Form, aber die Bilder, mit welchen ich mich beschäftige, kennt jeder.» Anders als bei der Malerinnengeneration vor ihr, etwa bei Maria Lassnig oder Louise Bourgeois, erscheint bei Dumas der Frauenkörper nicht als wund. Mit ihren Brüsten, Haaren, mit ihren Beinen und Schenkeln sind Dumas’ «Models» oder «Magdalenas» besser geerdet als die Männer, deren gequälte Blicke von Zwang und Verrat erzählen und die sich manchmal an ihrer Erektion festhalten, als ob sie ihre letzte Zuflucht wäre. Aber dann sind noch ihre Kinderbilder da. Sie zeigen Unschuld, deuten aber immer auch ihren Missbrauch an. Das stärkste darunter, «The Painter» von 1994, zeigt Dumas’ kleine Tochter Helena. Die eine Hand mit roter Farbe verschmiert, schaut die kleine Malerin trotzig unter der gesenkten Stirn hervor. Unheimlicher könnte die Wirkung eines Kinderbildes nicht sein. Das blasse Geschöpf scheint seine Hand ins Blut getaucht zu haben, die Augen leuchten dunkel, blaue Schatten lauern in des Kindes Schoss. «Manche finden das nicht gut, dass ich meine Tochter so malte», sagt Dumas. «Aber das Bild hat mit ihr nichts zu tun.» Seltsamer­weise stimmt das. Sie schafft es, ihre Sujets zu Trägern einer universellen Wahrheit zu machen, egal, ob die Vorlage aus dem Familienalbum oder aus der Zeitung stammt. Den Medien entnahm sie etwa das Bild für ihr Porträt von Osama bin Laden. Als das Gemälde für die Sammlung des Stedelijk-Museums angekauft wurde, gab es in Holland Aufregung. Darf man den Terroristen so freundlich malen? Osamas Antlitz wirkt bei Dumas sanft entrückt. In den blau unterlaufenen Augen, in der sinnnlich geschwollenen Unterlippe ergiesst sich eine Energie, die nicht von dieser Welt zu sein scheint: der Jihadist als jüdischer Dibbuk. Ihre Bilder sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen «Mediale Bilder scheinen das eine zu sein, sie zeigen aber in Wirklichkeit etwas anderes», sagt sie. Das reizt sie. Gerade solche Vorlagen sind ihr die liebsten. In «Wall Wailing» meint man etwa, orthodoxe Juden an der Klagemauer in Jerusalem beten zu sehen. Doch es sind Palästinenser, von den israelischen Soldaten an die Gaza-Trennmauer gestellt. «Malen ist eigentlich weiblich», sagt Marlene Dumas, als ob sie damit ihre eigenwillige Geschichtsauslegung rechtfertigen wollte. «Oder besser gesagt, androgyn. Wie es Meret Oppenheim formulierte.» Was würde sie Georg Baselitz auf seine sexistische Unterstellung antworten? «Ich würde sagen, Herr Baselitz, Sie malen besser, als Sie meinen! Und Kopf hoch, ich mag deutschen Humor» – man sage ja, die Deutschen hätten keinen, flüstert sie mir zu und kichert. «Marlene Dumas», Fondation Beyeler in Riehen, 31. 5. bis 6. 6. Der Artikel ist am 24.05.2015 in der SonntagsZeitung erschienen About

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Büchels Moschee in Venedig

Büchels Moschee in Venedig Ewa Hess | 27. Mai 2015 – 10:57 Ich war an der Eröffnung von Christoph Büchels Kunstprojekt in Venedig dabei. Der Island-Schweizer liess an der Biennale die Muslime in einer umgenutzten katholischen Kirche beten. Bis die Stadt das Gebäude schloss. Nach den starken, intensiv positiven Emotionen der Eröffnung, die zu einer wunderbaren Versöhnungsfeier der Religionen wurde – unverständlich und dumm. Also doch. Am Freitag schlossen die venezianischen Stadtbehörden die Installation «The Mosque» des Schweizer Künstlers Christoph Büchel. Nach zwei Wochen der Diskussionen, der Anzeigen und der darauf folgenden staatlichen Kontrollen teilte die Stadtverwaltung von Venedig den Verantwortlichen des isländischen Pavillons und der Biennale mit, dass die Genehmigungen zurückgenommen worden seien. Die Gebetswilligen erhielten keinen Einlass mehr. Der Fall ist interessant. Es geht um den Umgang mit Religion und um unsere Bereitschaft, die liberalen Tendenzen des Islam zu stärken. Eine politische Kunst hatte der Biennale-Leiter Okwui Enwezor gefordert. Und «The Mosque» löste diese Forderung besser ein als die beiden Hauptausstellungen der Biennale. Die Projekte des in Island lebenden Schweizers zielen immer in die Mitte ­einer schwelenden sozialen Unruhe. In Venedig, der traditionellen Pforte zum Orient, sind die islamischen Kultur­einflüsse überall anzutreffen. Trotzdem gab es im historischen Zentrum der Stadt nie eine funktionierende ­Moschee. Ein Lager wird zur Moschee Diese zu finden, war eine Aufgabe nach Büchels Gusto. Nur – und das ist der provokative Teil seines Beitrags –, er richtete diese Kunst-Moschee in einer katholischen Kirche ein, in der Santa Maria della Misericordia de L’Abazia, die er nach langer Suche fand. Die Kirche wurde Anfang der 70er-Jahre privatisiert und desakralisiert (die Gegner behaupten zwar, der Akt der Desakralisierung habe nicht stattgefunden, doch die Isländer haben Belege). Die ehemalige Kirche wurde bisher als Lagerraum gebraucht und kann gemietet werden. Büchel stattete die Kirche als Moschee aus, mit Teppich samt aufgemalten Gebetsnischen, orientalischem Lüster, Koransprüchen über den Türen, einer Mihrab-Nische, welche die Gebetsrichtung anzeigt, und einem LED-Display mit aktuellen Gebetsstunden. Die Eröffnung am 8. Mai geriet zu einer herzerwärmenden Feier der Verbrüderung. Mohammed Amin al-Ahdab, ein Architekt und Präsident der islamischen Gemeinde Venedigs, dankte in einer Rede für die «Magie der Kunst», welche die «Herzen der Muslime» erleuchte. Manche Männer beteten vom ersten ­Moment an. Frauen fühlten sich auf ihrer Empore wohl, Kinder kreischten. Das Kunstvolk zog folgsam die Schuhe aus. Trotzdem: Die Proteste begannen sofort nach der Eröffnung und kulminierten in einer Anzeige, die der venezianische Kunsthistoriker Alessandro Tamborini erstattete. Er weigerte sich, beim Besuch seine Schuhe auszuziehen: Da dies ein Pavillon der Biennale sei, könne es sich nicht um einen Kultort handeln. Also schloss die Stadtverwaltung um der Ruhe willen jetzt die «Mosque». Unter dem formalistischen Vorwand, dass die Maximalzahl von Besuchern überschritten wurde. Das befriedigt nun aber weder die Gegner, die ein Exempel statuieren wollten, noch die Organisatoren, die auf eine offene Diskussion über den Umgang mit den Grundrechten der islamischen Minderheit in Italien hofften. Denn nach der Schliessung regt sich auch in Kunstkreisen Kritik. Kritik an Büchel Büchel spiele mit dem Feuer, heisst es, er provoziere eine mediale Schlammschlacht, die auch islamische Fanatiker alarmieren könnte. Indem er darauf ­bestehe, seine Aktion in einer Kirche zu ­inszenieren, riskiere er verletzende ­Bemerkungen und befeuere eine Hetze gegen just die Menschen, bei deren ­Integration er helfen wollte. Dass «The Mosque» dennoch ein Projekt ist, das die liberalen Tendenzen des Islams stärkt, zeigte sich deutlich an der Eröffnungsfeier. Es ist doch immerhin erstaunlich, dass die islamische Gemeinde Venedigs sich dem Biennale-«Tross» vorbehaltlos geöffnet und die zwar wohlmeinenden, aber schrillen Kunstliebhaber aus aller Welt in ihrer Mitte mit offenen Armen empfangen hat. Wem übrigens die Vermischung von Kunst und Religion nicht ganz geheuer vorkommt, kann einen Abstecher in eine der vielen anderen Kirchen der Stadt machen. Dort werden die grössten Werke der abendländischen Kunst von Touristenmassen bestaunt, während ­venezianische Omas inbrünstig beten. Publiziert im Tages Anzeiger am 27. Mai 2015 About Ewa HessSwiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, ZürichView all posts by Ewa Hess » @askewa @PSPresseschau Wunderbares textlein 🍀 thx 4 sharing 08:10:37 PM Mai 30, 2023 von &s in Antwort auf PSPresseschau@GESDA Hackathon 4 the future – Open Quantum Institute in the making. Impressive! https://t.co/hWBdlsEFkd 09:35:19 AM Mai 07, 2023 von &s in Antwort auf GesdaIt’s my #Twitterversary! I have been on Twitter for 13 years, since 26 Nov 2009 (via @twi_age). 01:00:51 AM Dezember 13, 2022 von &s @askewa folgen Neueste Beiträge Baselitz‘ WeltI likePrivate Sales, ein SchattenspielAdieu John BergerTalk mit Jacqueline Burckhardt Blogroll FAQNews-BlogPop MattersRevue 21Support ForumWordPress-Planet Themen Ai Weiwei Amerika Andy Warhol Aphrodite Ascona Baron Heinrich Thyssen Basel Biennale Venedig Bird’s Nest Caravaggio China Fischli/Weiss Fondation Beyeler Frank Gehry Georg Baselitz Gerhard Richter Ghirlandaio Gstaad Gurlitt Gustav Klimt Harald Szeemann Keanu Reeves Kunst Kunstmuseum Basel Louise Bourgeois Maja Hoffmann Maria Lassnig Marlene Dumas Melinda Nadj Abonji Monte Verità Nachtkritik Oprah Winfrey Pipilotti Rist Schweizer Architektur Schweizer Film Schweizer Kunst Schweizer Literatur Shakespeare Simon de Pury Thomas Hirschhorn Ugo Rondinone Urs Fischer Valentin Carron Warhol Weltwoche Previous PostNext Post Schreibe einen Kommentar Cancel Reply Logged in as Ewa Hess. 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Keanu liest Gauguin

Keanu liest Gauguin Ewa Hess | 24. April 2015 – 11:15 Anlässlich der Paul-Gauguin-Ausstellung der Fondation Beyeler liest der Schauspieler Keanu Reeves aus dem Tahiti-Tagebuch «Noa Noa». Dabei ist seine Begeisterung für das Werk des Malers ziemlich neu. Keanu Reeves kommt nach Basel mit einer Mission: Er möchte – als Teil-Polynesier – dem Publikum die Augen für den grossen französischen Malerei-Erneuerer Gauguin öffnen. Mit dem «Matrix»- und «Speed»-Star sprachen wir im Wintergarten der Fondation Beyeler am Vortag seines Auftritts. Keanu Reeves, Sie lesen aus Gauguins poetischem Tahiti-Tagebuch «Noa Noa». Nach welchen Kriterien wählten Sie den Text?Am liebsten würde ich den ganzen Text vorlesen, doch dafür reicht die Zeit nicht. Ich lese aus jedem Kapitel eine Passage und erzähle Persönliches dazu. Woher kommt Ihr Engagement für das Werk Gauguins? Das ist ganz neu. Bisher kannte ich Gauguin nur dank Anthony Quinn. Sie spielen auf den Film «Lust For Life» an, einen Klassiker von Vincente Minelli aus dem Jahr 1956? Ja. Kirk Douglas spielt darin Van Gogh und Anthony Quinn Gauguin. Er spielt ihn grossartig. Doch jetzt, da ich die Biografie Gauguins besser kenne, stelle ich fest, dass mir eigentlich damals vor allem Quinns Schauspielkunst gefiel. Und jetzt? Natürlich kannte ich einige Gauguin-Werke auch früher – die, die jeder kennt. Aber nachdem ich Sam Keller zugesagt hatte, begann ich Gauguin zu lesen – seine Briefe und Aufzeichnungen. Er ist ein sehr suggestiver Schreiber. Mir kam es plötzlich so vor, als ob ich mit einem lebenden Künstler in eine Diskussion verwickelt würde. Auch Sie betätigen sich als Schriftsteller, kommt daher Ihr Interesse? Sie meinen die «Ode an das Glück»? Ja, Ihre poetische Auseinandersetzung mit dem gauguinschen Thema. Ich kann mich nicht mit Gauguin vergleichen. Aber ja, in meinem Buch geht es darum, wie man das Glück wiederfinden kann nach einer dunkleren Zeit. Jeder kennt eine solche von Zeit zu Zeit. Gauguin hatte solche sogar in seinem selbst gewählten Paradies. Die gängige Meinung ist, dass er das Paradies auch malte. Erst wenn man diese Bilder wirklich anschaut, merkt man, dass das nicht stimmt. Nein? Wie interpretieren Sie sie also? Er verführt den Zuschauer mit einem Versprechen des Paradieses, das stimmt. Gauguin war ein grosser Verführer. Aber am Ende konfrontiert er uns immer mit der Erkenntnis, dass das Leben ebenso bitter wie süss ist und dass es prekär bleibt, wer wir sind und wie wir sind. Dass es also, im Gegenteil, ein Paradies gar nicht gibt. Ist Gauguin darin ehrlicher als andere Maler? Hier in der Beyeler-Sammlung hat man gute Vergleichsmöglichkeiten. Und ich merkte gestern bei einem Rundgang, dass viele grosse Maler auf diese Weise ehrlich sind. Ich empfinde Gauguin aber in dieser Beziehung als besonders angriffig. Seine Bilder fordern einen fast physisch heraus, die Emotionen sind so stark! Er springt in unsere Augen, zwingt uns, ihn zu verstehen, ihn nicht zu verurteilen. Mir kommt es fast so vor, als ob seine Bilder den Blick des Zuschauers auf ihn selbst zurückwerfen würden. Es klingt fast, als ob Sie mit ihm verwandt wären … Könnte es sein? Man sagt, dass in Polynesien ganze Inseln mit seinen Ururenkeln bevölkert sind. Na hören Sie, ein Teil der Familie meines Vaters kommt aus Hawaii, das ist sehr, sehr weit weg von Tahiti und den Marquesas. Aber sind wir nicht alle Gauguins Kinder? Wie stark ist Ihre Verbindung zu der polynesischen Kultur? Ich habe meine Cousins auf Hawaii schon als Kind besucht. Doch Hawaii ist stark amerikanisch, sozusagen kolonisiert. Ich merkte aber, wie teuer den Menschen die Reste der ursprünglichen Kultur sind, wie sehr sie sich daran halten. Die Art, wie Gauguin selbst mit der Bevölkerung Tahitis umging, wurde von der feministischen Sicht kritisiert. Nehmen Sie ihm das als Teil-Polynesier nicht übel? Ich habe davon gelesen, dass ihn manche Menschen als Sextouristen, ja sogar als Pädophilen sehen, da einige seiner Frauen, etwa die erste, nur 13 Jahre alt waren. Und ich muss zugeben, dass die Art, wie er diese Zustände beschreibt, nicht etwa entschuldigend ist. Es gibt nur ihn und seine Malkunst, die Familie, andere bedeuteten ihn wenig. Immerhin findet er oft sanfte, poetische Worte, um die Frauen der Inseln zu beschreiben. Diese Zärtlichkeit spiegelt sich auch in den Gemälden. Sammeln Sie selber auch Kunst? Nein, ich kann mir meinen Geschmack nicht leisten. Oh, das klingt, als ob Sie am liebsten das «Nafea»-Bild Gauguins kaufen würden, das gerade für angeblich 300 Millionen den Besitzer gewechselt hat und zum letzten Mal in Basel zu sehen ist. Ja, sehen Sie? Das könnte ich mir nicht leisten. Aber Gott sei Dank gibt es Museen. Grosse Kunst sollte allen zugänglich sein. About Ewa HessSwiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, ZürichView all posts by Ewa Hess » @askewa @PSPresseschau Wunderbares textlein 🍀 thx 4 sharing 08:10:37 PM Mai 30, 2023 von &s in Antwort auf PSPresseschau@GESDA Hackathon 4 the future – Open Quantum Institute in the making. Impressive! https://t.co/hWBdlsEFkd 09:35:19 AM Mai 07, 2023 von &s in Antwort auf GesdaIt’s my #Twitterversary! 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Bärfuss vs. Berset

Bärfuss vs. Berset Ewa Hess | 17. Mai 2015 – 10:26 Nachdem die Solthurner Literaturtage eine Begegnung zwischen dem Schriftsteller Lukas Bärfuss und dem Bundesrat Berset angekündigt haben, bat ich Bärfuss um ein Treffen – im Vorfeld. Wir unterhielten uns dann im Bahnhofbuffet Zürich über die Sprache der Politik, die Macht des Virtuellen und Max Frisch als StrafaufgabeEwa Hess Ihre Diskussion mit Bundesrat Berset wird in der Presse als «Bärfuss gegen Berset» angekündigt. Ein Kräftemessen? Nein, ein Kampf ist nicht beabsichtigt. Ich kenne nur einen Gegner – das sage ich auf die Gefahr hin, ­eitel zu klingen –, das bin ich selbst. Deshalb fange ich mit der Kritik immer bei mir an. «Zur Sprache finden» heisst das Thema – diskutieren Sie auf Deutsch oder auf Französisch? Damit sind wir schon mitten in der Diskussion um die Schweizer Identität, in der es immer auch um die Vielsprachigkeit geht. Das wird interessant werden. Interessant oder intéressant? Ich versichere Ihnen, mein Französisch ist gut genug. Sie werden sich also auf Französisch unterhalten? Sicher auch. Sprechen Politiker und Schriftsteller vom Gleichen, wenn sie von der Sprache sprechen? Jedenfalls bewegen sich Politiker – wie die Schriftsteller auch – in einem System, das sprachlich ­definiert ist. Die Gesetze sind in Sätze gefasst. Die Bundesverfassung ist ein Text. In der Politik geht es aber um eine «Sprachregelung» – so nennt man die unverfänglichen Amtsformulierungen –, in der Dichtung hingegen um einen freien Umgang mit dem Wort. Dennoch ist ein Gesetz zuerst Sprache und muss also interpretiert werden. Deshalb geht den Anwälten die Arbeit nie aus. Mich als Schriftsteller interessiert aber vor allem das, was die Sprache nicht ausdrücken kann. Wie meinen Sie das? Der Schriftsteller ist einer, der die Sprache nicht versteht. Er bleibt ihr gegenüber kritisch, sucht ihre Grenzen. Erst dort gibt es etwas zu entdecken. Und der Politiker? Ein Politiker muss Interessen definieren und durchsetzen. Bei ihm heisst es: Wir bezahlen exakt so und so viel Steuern, die Höchst­geschwindigkeit ist siebzig, Frauen haben keine Quote und Ausländer weniger Rechte. Er setzt damit eine Wirklichkeit, und es gibt Menschen, die unter dieser Wirklichkeit leiden. Gerade darum verstecken sich doch Politiker gerne hinter sogenannten Unwörtern wie «Ventilklausel» oder «Klimakompensation». Politiker sind tatsächlich oft die Lieferanten dieser Worthülsen, doch nicht sie alleine schleusen sie in den öffentlichen Diskurs ein. Sehen Sie die Rolle des Schriftstellers darin, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren? Die Verantwortung für eine adäquate Sprache soll man weder an Schriftsteller noch an Politiker delegieren. Die Aufgabe haben alle. In Ihrem Buch «Stil und Moral» sprechen Sie von einer «wachen» im Gegensatz zu einer «schlafenden Öffentlichkeit». In diesem Essay, «Das Volk und ich», geht es um die Rechtfertigung der Volksinitiative als ein Instrument der Veränderung. Aber ohne Zweifel verändert sich die Öffentlichkeit gerade dramatisch. Woran erkennen Sie das? Es gibt so etwas wie eine gesellschaftliche Hypnose. Wir sind alle endlos fasziniert von unseren technologischen Möglichkeiten. Das Virtuelle definiert die Orte, Methoden und Prozesse des Öffent­li­chen um, während aber unser Staat und viele unserer Rechte noch eine physische Präsenz voraussetzen. Seit dem Erscheinen von «Stil und Moral» werden Sie als das Gewissen der Schweiz gefeiert, als neuer Max Frisch. Ist das ein Kompliment für Sie? Ich weiss, dass es als Kompliment gemeint ist, und darum freut es mich. Es hilft mir aber nicht bei der Arbeit. Zuschreibungen sind keine Denkhilfe. Wie stehen Sie zu Max Frisch? Ich habe zu Frisch eine lange Beziehung, die früh in meiner Schulzeit begann. Wie jeder Schweizer – seine Werke sind Schullektüre. Ich bekam seine Texte als Straf­aufgabe. Wie das? Ganz konkret, ich musste sie zur Strafe aus dem Lesebuch abschreiben. Die Höchststrafe war «Der selbstsüchtige Riese» von Oscar Wilde, das waren neun Seiten. Bei geringeren Vergehen gabs «Der andorranische Jude» von Frisch. Der war kürzer. Frisch war für mich also das kleinere von zwei Übeln. Sehen Sie sich selbst als seinen Nachfolger? Nein, der Vergleich ist unzulässig. Max Frisch und ich sind nicht Zeitgenossen. Er sah sich einer anderen geschichtlichen Situation gegenüber. Das bipolare politische System existierte damals noch. Und auch die atomare Bedrohung. Während jetzt … … ja, wie ist die Situation jetzt? Deutlich unübersichtlicher. Es fällt zudem schwer, die eigene ­Si­tuation zu analysieren. Es bleibt ein Ringen, während man versucht, eine Haltung zu entwickeln … Wie Sie es kürzlich in der Sendung «Arena» zur Flüchtlingstragödie taten? Da reagierte ich auf eine konkrete Situation: Die Anfrage für die ­Sendung kam während meiner ­Ferien. Und? Ich war mit meiner Familie am ­Mittelmeer. Das Wasser war schrecklich kalt. Dazu die Bilder der Katastrophe vor der Küste Libyens in den Medien. Ich konnte dem Thema nicht ausweichen und beschloss, mich der öffentlichen Diskussion zu stellen. Sie sagten in der Sendung, diese Flüchtlinge seien Helden. Warum? Weil sie für die Aussicht auf eine bessere Zukunft ihr Leben riskieren. Auch in dieser Diskussion spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Nehmen wir ein Wort wie «Schlepper». Warum sagen wir nicht «Fluchthelfer»? Ich habe kürzlich mit einem Freund gesprochen, dessen Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg aus den sowjetisch besetzten Zonen in den Westen geflohen ist – erfolgreich dank einem Fluchthelfer, dem man noch heute dankbar ist. Die Bezeichnung «Schlepper» beinhaltet eine Delegitimierung der Flüchtlinge, indem sie ihnen die Autonomie des Fluchtwunsches abspricht. Sie wurden im Verlauf der Sendung zunehmend stiller. Hat Sie die Diskussion enttäuscht? Nun, ich lege nur Wert auf Umgangsformen, möchte höflich bleiben und Menschen ausreden lassen. Das sind keine Tugenden, mit denen man in einer solchen Sendung zu Potte kommt. Das klingt wie eine – höfliche – Kritik an der «Arena». Nein, das sind die Spielregeln. Ich lebe gerne nach dem Prinzip, mich einmal pro Tag lächerlich zu machen. Im Unangreifbaren zu bleiben, würde mich langweilen. Rufen Sie darum Ihre Leser dazu auf, Ihr Buch wegzu­werfen? «Die Lektüre ­literarischer Essays ist ­moralisch nicht zu recht­fertigen», heisst es im letzten Satz von «Stil und Moral». Ich werde auf diesen Text oft angesprochen und merke, dass er nicht überall verstanden wird. Das ist eine poetische Haltung! Eine Polemik gegen eine Überzeugung der bürgerlichen Verfasstheit: dass uns

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Katja N., Aktivistin

Katja N., Aktivistin Ewa Hess | 16. Juni 2015 – 11:54 Die russische Aktivistin Ekaterina Nenaschewa (rechts) nähte zusammen mit der Pussy-Riot-Frau Nadja Tolokonnikowa (links) auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz eine Fahne, bis sie verhaftet wurde. Die Bilder, die sie aus dem Gefängnis twitterte, gingen um die Welt. Einen Tag später wurde sie entlassen. Ich hörte von der Aktion, als ich für eine Kunstreportage in Moskau war und bat Katja über Facebook um ein Interview. Sie sagte zu und kam in der Sträflingsuniform, die sie selbst genäht hat und aus Protest gegen die schlechte Haftbedingungen in Russland während 30 Tagen trug. Wir sprachen in meinem Hotelzimmer über ihr Engagement. Die klare Weltsicht, präzise Sprache und psychische Reife der jungen Frau haben einen grossen Eindruck auf mich gemacht. Hier das daraus entstandene Interview. Katja, was ist passiert? Am 12. Juni, einem Nationalfeiertag, wurden wir zwei Frauen während einer Performance am Bolotnaja-Platz in Moskau verhaftet. Nadja Tolokonnikowa – die ein Mitglied der Band Pussy Riot und ehemalige Strafgefangene ist – half mir beim Nähen, als die Polizisten kamen. Der Name Bolotnaja weckt Erinnerungen an die Proteste 2012. War die Adresse bewusst gewählt? Natürlich. Viele Teilnehmer der Demonstration vom 6. Mai sind noch im Gefängnis. An diesem symbolträchtigen Ort wollten wir unsere Performance aufführen: In Uniformen der Strafgefangenen eine russische Fahne nähen. Sie tragen diese Uniform schon seit Wochen? Ja, die Performance fand im Rahmen meiner Aktion «Habe keine Angst» (russisch: «Ne bojsja») statt. Diese Aktion thematisiert die Wiedereingliederung von ehemaligen Strafgefangenen. Sie soll eine breitere Öffentlichkeit für diese Problematik schaffen. Worin besteht die ganze Aktion? Ich trage dreissig Tage lang die Uniform einer Gefangenen. Ich gehe in ihr arbeiten, ins Restaurant, ins Theater, in die Metro oder zum Coiffeur und setze mich den Reaktionen aus, die diese Kleidung hervorruft. Oft sind sie gereizt, aggressiv. Viele Menschen verstehen gar nicht, dass das eine Gefangenenuniform ist, dennoch macht sie diese schlichte Kleidung mit aufgenähter Gefangenennummer unwirsch oder ängstlich. Das ist für mich unangenehm, und dieses ungute Gefühl kommt meinem Werk zugute. Inwiefern? Bei der Aktionskunst geht es ja darum, die Gefühle eines Menschen in einer solchen Situation zum Thema zu machen: Trauer, Unsicherheit, Niedergeschlagenheit und vor allem sehr viel Angst. Je stärker diese Gefühle in mir sind, desto stärker die Herausforderung des Kunstwerks an die Welt. Wie hängt die Fahnenperformance damit zusammen? Gestern war der 18. Tag meiner Aktion, und Nadja Tolokonnikowa hat beschlossen, mitzumachen. Wir haben uns mit Stoff in den russischen Nationalfarben und einer kleinen alten Nähmaschine an den Bolotnaja-Platz begeben. Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Pussy Riot? Ich habe am Vortag die MediaZona, eine von Pussy Riot initiierte Newsseite der Bürgerrechtsbewegung, über die Aktion informiert. Nadja hat mir dann sofort geschrieben, dass sie meine Aktion unterstützen will. Kurz vor der Performance haben wir uns erstmals gesehen. Wie hängt das Nähen mit Ihrem Thema zusammen? Das Nähen ist ein kreativer Prozess, kann auch sehr schön sein, ein Hobby, doch es ist ebenfalls ein Werkzeug zur Ausbeutung der Strafgefangenen, welche Kleidungsstücke ohne Lohn nähen müssen. Auf diesem Widerspruch hätte unsere Performance basieren sollen, wir sind aber nicht weit gekommen. Was kam dazwischen? Nach wenigen Minuten sind Polizisten aufgetaucht. Wir haben sie ignoriert und weitergenäht. Sie haben uns in den Kastenwagen gezwängt, Faden, Stoff, Nadeln mit eingepackt. Die Nähmaschine haben sie zuerst vergessen und mussten nochmals anhalten, um sie zu holen. Das hatte durchaus eine komische Wirkung. Haben die Polizisten Tolokonnikowa als Pussy-Riot-Mitglied erkannt? Erst als sie auf dem Polizeiposten ihren Pass zeigte. Mit welcher Begründung führte man Sie ab? Da gab es nicht viele Erklärungen. Die einzige, die wir gehört haben, war: Man näht nicht auf der Strasse. Ein konstruktives Gespräch kam während der ganzen Zeit nicht auf. Gab es Übergriffe? Eine Frau, deren Funktion mir unklar war, verlangte, dass wir unsere Uniformen ausziehen. Da wir keine anderen Kleider dabei hatten, wollten wir das nicht tun. Es hiess zu einem gewissen Zeitpunkt, dass wir in den Uniformen überhaupt nicht rauskommen werden, was mir lachhaft schien, denn diese «Uniformen» habe ich selbst genäht, sie sind eigentlich nichts anderes als ein normaler Bleistiftrock und Bluse. Waren die Beamten also ­ nicht aggressiv? Bei der Abführung gab es schon Kraftanwendung, aber keine Schläge. Es waren fünf Polizisten und wir nur zwei Frauen. Auf dem Kommissariat, und vor allem nachdem sie bemerkt haben, dass Nadja die Frau von Pussy Riot war, gab es grobe Witze und abschätzige Bemerkungen. Unhöflich, verächtlich, beleidigend, aber keine physische Bedrohung. Glauben Sie, dass Sie durch die Präsenz der weltberühmten Aktivistin Tolokonnikowa besser oder schlechter behandelt worden sind? Ohne sie, da bin ich mir sicher, wäre ich länger zurückgehalten worden. Als wir im Saal sassen, wurde ein junger Mann reingebracht, dem das Telefon und alle seine Sachen abgenommen wurden. Ich habe auch mit Nadja darüber gesprochen, dass wir wohl zu den besser Behandelten gehören. Sie haben aus dem Kommissariat getwittert, also durften Sie die Telefone behalten? Ja, diese hatten wir in unseren Blusentaschen. Aber die Nähutensilien nahm man uns weg, vor allem den Stofffetzen mit der Aufschrift IK-1. Was hat diese Aufschrift zu bedeuten? Ispravitelnaja kolonia odin – Strafkolonie eins. Wir wollten diesen Schriftzug auf die fertige Fahne nähen, als Metapher für Russland. Woher kommt Ihr Engagement für Gefangene? Ich arbeite in einem Sozialwerk, das sich um Kinder ohne Eltern kümmert. Dabei bin ich mit dem Phänomen konfrontiert worden, dass den gefangenen Frauen nicht erlaubt wird, mit ihren Kindern Kontakt aufzunehmen. In den russischen Straflagern gibt es eine grosse ­Anzahl von Frauen, die ganz allein sind. Niemand schreibt ihnen, niemand spricht zu ihnen, und sie verkümmern menschlich. Oft kommen diese Frauen freiwillig in die Straflager zurück, indem sie Vergehen anderer auf sich nehmen, weil sie vor dem Leben draussen schlicht Angst haben. Deshalb habe ich meine Aktion «Habe keine Angst» genannt. Welche Angst ist damit gemeint? Die Frauen haben Angst vor der Welt draussen, und die Menschen draussen haben Angst vor ehemaligen Strafgefangenen. Solange wir aber voreinander Angst haben, wird nur dem System geholfen, und die Welt wird nicht besser. Ein

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Kentridge und die «Nase»

Kentridge und die «Nase» Ewa Hess | 12. Juni 2015 – 11:27 Eine der Folgen der südafrikanischen Apartheid war die kurz nach dem Fall des Regimes eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission. Die von Nelson Mandela erfundene und von Desmond Tutu präsidierte Para-Behörde ermutigte die Verbrecher aus der dunklen Zeit der Rassentrennung dazu, ihre Untaten vor Zuhörern zu bereuen. Damit hatte es sich auch. Die öffentliche Beschämung und Reue, so die Prämisse, sollte eine juristisch verhängte Strafe durch eine gesellschaftlich konstruktivere Praxis ersetzen. An diese interessante, aber auch seltsam ambivalente gesellschaftliche Einrichtung muss man beim Anblick von William Kentridges Werken oft denken. Öffentliche Beschämung statt Strafe ist am Ende vielleicht auch kein besonders humanes Konzept; die Farce eines lärmigen Bauerngerichts, bei dem die Schuld verhandelt, aber nicht wirklich gefunden wird, steht oft im Hintergrund der Filme und Werke des 61-jährigen Künstlers. Auch jetzt, im Haus Konstruktiv, in dem der südafrikanische Künstlerstar seine von der russischen Avantgarde inspirierten grossartigen Videos zeigt. Ein Schritt in den Erdgeschosssaal, und schon ist man mitten in der schrillen Kentridge-Welt: groteske Figuren, absurde Rituale und – Musik! Hereinspaziert, meine Damen und Herren, Musik! Mit komödiantisch verbrämter Verzweiflung zappeln hier Pferde, Menschen und Nasen, sie steigen auf Leitern, bilden Prozessionen, tanzen Kasatschok oder klagen einander mit Zitaten aus stalinistischen Schauprozessen der 30er-Jahre an. Die ganze Suite von acht nur wenige Minuten langen Filmstücken läuft simultan und trägt den rätselhaften Titel «I am not me, the horse is not mine», was die ins Englische übersetzte russische Entsprechung von «Mein Name ist Hase» ist, also eine Formel, die jede Schuld weit von sich weist. Spätestens nach der Klärung der Redewendung wird klar, was William Kentridge an Schostakowitschs Oper «Die Nase» – und an der ihr zugrunde liegenden Erzählung Nikolai Gogols – fasziniert haben mag: das südafrikanische Thema der sich diffus in alle Lebensbereiche einschleichenden Schuld. Repetieren, variieren Es war Kentridge, der auf die Anfrage der New Yorker Metropolitan Opera 2006 die skurrile «Nase» vorschlug. Die Premiere fand 2009 statt, auf einer virtuos von Kentridge eingerichteten Bühne. In den drei Jahren dazwischen entstanden unzählige Werke, in welchen der Künstler sich das Thema, wie das seine Gewohnheit ist, repetierend, variierend und verfremdend aneignete. So entstanden Radierungen, Zeichnungen, Collagen, Skulpturen, ja sogar Teppiche – alles im Haus Konstruktiv zu sehen, – und überall geistert die ominöse Nase des Petersburger Kollegien-Assessors Kowaljow herum. Was hat es mit dieser Nase auf sich? Der russische Schriftsteller Nikolai Gogol (1809–1852), realistischer Vorläufer des Surrealismus, erzählt in seiner rätselhaften Novelle die abstrusen Erlebnisse des Petersburger Beamten, der eines Tages ohne Nase aufwacht. Es stellt sich heraus, dass der unsubordinierte Körperteil sich in eine höhere Stellung als sein Besitzer hineinzumogeln vermochte. Unangenehm: Kowaljow begegnet seiner eigenen Nase in der Kirche; zu seinem Entsetzen trägt sie die funkelnde Uniform eines Staatsrats. 100 Jahre nach Erscheinen der Novelle wendet sich der erst 24-jährige Dmitri Schostakowitsch der Burleske zu. Man schreibt das Jahr 1930, das starre Beamtensystem des alten Russlands ist Geschichte, doch der junge Sowjetstaat erlebt den Aufstieg einer neuen, ebenso dumpf machtgierigen Klasse, die der Parteifunktionäre. Diese neuen Kleinbürger, von den avantgardistischen Höhenflügen des Jahrhundertanfangs bereits Lichtjahre weit entfernt, sahen in der Musik Schostakowitschs lediglich «Wirrwarr». Ähnlich verdächtig erschien ihnen die Farce von Gogol – kein Wunder. Sie mussten sich in dem Wettstreit um Macht und Einfluss, den Kowaljow mit seiner Nase ausficht, diffus veräppelt vorkommen. Die Oper verschwand nach ihrer Uraufführung 33 Jahre lang in der Ver­senkung, wird seither aber oft aufgeführt. Der Kuratorin Sabine Schaschl ist es nun gelungen, den ganzen Reichtum von Kentridges Auseinandersetzung mit der «Nase» nach Zürich zu holen. Da die Schau einen thematischen Schwerpunkt hat, ist es keine klassische Retrospektive, was ihr keinen Abbruch tut. Im Gegenteil, konzentriert und unterhaltsam bekommt man die Vielseitigkeit des Künstlers vorgeführt, der in den meisten der gängigen Rankings unter den wichtigsten zehn weltweit gelistet wird. Der Sohn eines jüdischen Juristenpaars (das sich während der Apartheid auf die Verteidigung von Menschen dunkler Hautfarbe spezialisiert hatte) ist in den 90er-Jahren mit dem Vermischen von Kunst, Film und Theater bekannt geworden. Seine Trickfilme, für die er in archaisch anmutender Stop-Motion-Technik Zeichnungen und Puppen animiert, wurden auf der Documenta, an der Biennale, in New York, Paris, London gezeigt. Zurzeit wird seine Inszenierung von Alban Bergs «Lulu» in Amsterdam gespielt. Die furiose Schau um «seine Majestät die Nase», wie es Kentridge in einem seiner Werke ausdrückt, bringt sein künstlerisches Universum endlich in die Schweiz. Veröffentlicht am 9. Juni im Tages Anzeiger. About Ewa HessSwiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, ZürichView all posts by Ewa Hess » @askewa @PSPresseschau Wunderbares textlein 🍀 thx 4 sharing 08:10:37 PM Mai 30, 2023 von &s in Antwort auf PSPresseschau@GESDA Hackathon 4 the future – Open Quantum Institute in the making. Impressive! https://t.co/hWBdlsEFkd 09:35:19 AM Mai 07, 2023 von &s in Antwort auf GesdaIt’s my #Twitterversary! 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Biennale als Orakel

Biennale als Orakel Ewa Hess | 10. Mai 2015 – 10:25 Ich lese der Biennale aus der Hand! Der künstlerische Leiter Okwui Enwezor stellt seine Hauptausstellung unter den Titel «All the World’s Futures» – 139 Künstlerinnen und Künstler leisten einen Beitrag zu den «Zukünften dieser Welt». Wir nehmen den Titel beim Wort und interpretieren die gezeigte Kunst als eine konkrete Prognose der gesellschaftlichen Zukunft. These 1. Das Kapital Es regiert unseren Planeten. Nirgends könnte das augenfälliger sein als an einer Weltversammlung der gut betuchten Kunstwelt. Die riesigen Jachten in der Lagune, die Champagnerkisten für die Empfänge in den Palazzi entlang des Canal Grande, die teuren Hotels Bauer und Cipriani zum Bersten voll, all das zeugt von der Weltherrschaft durch vermögende Eliten. Dieser verwöhnten Clique liest der aus Nigeria stammende künstlerische Leiter in seinem zentralen Ausstellungspavillon in den Giardini die Leviten, ähm, nein, er lässt ihnen «Das Kapital» von Karl Marx vorlesen. Und zwar integral. Über die gesamten sieben Monate der Biennale-Laufzeit, die ganze «Kritik der politischen Ökonomie», Produktionsprozess, Zirkulationsprozess, Gesamtprozess.Okwui Enwezor meint das ernst – Marx’ Analyse der herrschenden Verhältnisse gilt im Wesentlichen nach wie vor. Die techno- und pharmakologisch aufmunitionierte Wirtschaft macht sich die menschlichen Ressourcen mehr denn je untertan. Enwezor, ganz der optimistische Pädagoge, hat für die Lesung ein riesiges Auditorium mitten im Ausstellungsrummel bauen lassen – doch die zu unterrichtenden Massen bleiben aus. In den anderen Ausstellungssälen stehen sich die vielen Besucherinnen auf ihre Louboutins – die rote «Arena» bleibt eine tote Insel der wirkungslosen Ermahnung. Prognose: Marxlesung hin oder her – das Kapital ist und bleibt König, in der Kunst und auch sonst überall. These 2. Die Hoffnung Am stärksten tritt sie im ukrainischen Pavillon zu Tage: Der heisst «Hope»! Hoffnung worauf? Auf eine unabhängige Ukraina, erklärt der Pavillonkurator. Das Häuschen Ukrainas ist ganz aus Glas. Es steht nicht in den Giardini, sondern an der Uferpromenade zwischen San Marco und der Biennale. Transparent, frei, friedlich soll es wirken. Viele der hier ausgestellten Werke sprechen aber von Unterdrückung, Krieg, Hass. Trümmer der Autos, zu einer Skulptur zusammengeballt, Bilder aus der russischen «verbotenen Zone». Der Glaspavillon erweckt daher eine andere Assoziation als die gewünschte: Er wirkt fragil. Prognose: Dieser Konflikt wird noch lange der Hoffnung trotzen. These 3. Die Versöhnung Für die armenische Präsentation auf der Insel San Lazzaro hat die Schweizer Kuratorin mit armenischen Wurzeln, Adelina von Fürstenberg-Cüber­yan, auch einen Türken eingeladen. Der Künstler Sarkis, der sein Land Türkei an der Biennale ebenfalls repräsentiert, folgte ihrem Ruf, und die armenische Diaspora, um die es in der Ausstellung geht, protestiert nicht vor der Insel. Doch der Wunder nicht genug: Indien und Pakistan, seit Jahrzehnten im Bruderzwist um Territorialansprüche gefangen, treten gemeinsam in einem Pavillon auf. «My East is Your West», heisst der Auftritt, was nicht nur geografisch Sinn macht. Prognose: Der Mensch kann seine alten Ressentiments überwinden. Wenn das keine gute Nachricht ist? These 4. Die Bäume Die stehen stellvertretend für die Natur. Im französischen Pavillon bewegen sie langsam die Wurzeln (inszeniert vom Künstler Céleste Boursier-Mougenot), im finnischen Pavillon beschwört das Künstlerkollektiv IC-98 das «grüne Gold» der nordischen Wälder. Prognose: Die ist schlecht. Und zwar für die Natur. Menschen lieben Bäume, vor allem aber, wenn sie mit ihnen machen können, was ihnen passt. These 5. Die Lebensmitte An den Biennalen zeigen die Kuratoren gern künstlerisches Frischfleisch. Oder aber entdecken die ganz Alten (wieder). An dieser Biennale sind erstaunlich viele Künstler in der Mitte ihrer Karriere vertreten: etwa der deutsche Olaf Nicolai, 53, die Engländerin Sarah Lucas, 52, ihr Landsmann Chris Ofili, 46, der Türke Kutlug Ataman, 54. Prognose: Bis zum Greisen­alter auf Jung machen ist vorbei. Der Lebenszyklus darf gleichmässig ablaufen. These 6. Der Brainpower Trifft man jüngere Künstler in den Pavillons, staunt man über ihr flinkes ­Denken. Das beste Beispiel: die Schweizerin Pamela Rosenkranz. Das vielschichtige Bezugssystem ihres Werks hat mit Neurowissenschaft, Genetik, Biochemie zu tun. Ihre blubbernde rosa Masse «Our Product», die den Schweizer Pavillon füllt, ist nicht nur wunderschön, das Werk regt auch zum Denken an. Oder der Rumäne Adrian Ghenie, auch 35, der sich mit seiner eindrücklichen Malerei mit Darwins Theorien auseinandersetzt. Prognose: Nach Jahren des hedonistischen Bling-Bling wird nun die Intellektualität Trumpf. 7. Die «Singularity» Was ist denn das? Mit diesem Wort bezeichnen die Technologie-Theoretiker den Moment, in dem die künstliche Intelligenz die natürliche (sprich menschliche) überholen wird. Das erklärt die katalanische Kuratorin Chus Martinez, die seit kurzem die Basler Hochschule für Gestaltung und Kunst leitet. In der SF-Literatur wird dieser Moment als der des grossen Schreckens inszeniert: Die Computer und Roboter gehen dem Menschen ans Eingemachte. Ganz falsch, lernen wir nun im katalanischen Pavillon, den Martinez als Kuratorin gemeinsam mit dem u. a. auch in Locarno ausgezeichneten Filmemacher Albert Serra bespielt. Um zu zeigen, wie angenehm eine solche Fusion sein kann, erinnern die Katalanen an die Geschichte des Kinos – und zeigen die Kinematografie als eine bereits domestizierte maschinelle Erweiterung des menschlichen Hirns. Die mit Handy und Internet aufgewachsene Generation sehnt sich offensichtlich nach der Verschmelzung mit der Maschine. Davon spricht auch die Installation im deutschen Pavillon, wo die Künstlerin Hito Steyerl die Besucher ins Innere ­einer durchaus freundlichen Matrix versetzt. Prognose: Seid umschlungen, Brüder und Schwestern Maschinen! 8. Das Kollektiv Die künstlerische Individualität, im romantischen Konzept des Malergenies scheinbar für ewig in die Hirne eingebrannt, weicht dem Idealbild des Kollektivkünstlers. Duos, Trios und ganze Gruppen von schöpferisch tätigen Menschen bestimmen in gemeinsamer Anstrengung zunehmend die Szene. Das indische Raqs Media Collective etwa dominiert die Aussenräume der Giardini. Die drei Künstlerinnen und Künstler schmücken die Alleen mit ihrem «Coronation Park», einer Serie grosser Skulpturen aus Fiberglas. Geistliche und militärische Autoritätsfiguren thronen hoch auf ihren weissen Sockeln, auch wenn ihr historisches Bröckeln schon weit fortgeschritten zu sein scheint. Auch der kanadische Pavillon wird von einem Kollektiv bespielt, das sich BGL nennt. Beim Anblick der ausufernden – und für einmal sehr heiteren – Installation wird es einem augenblicklich klar, weshalb sechs Hände hier erfolgreicher waren als zwei. Die norwegische Vertreterin Camille Norment, die ihrer Glasharfe die wundersamsten Töne entlockt, lädt die anwesenden Künstler

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Gehrys Kathedrale

Gehrys Kathedrale Ewa Hess | 6. März 2015 – 11:20 Frank Gehry hält Hof in Paris. Gerade wird er zum König Frankreichs ausgerufen. «Le roi de ­France», verkündet ein Redner von der Bühne herab, «heisst heute Frank.» Frank der Erste schaut derweil drein, als ob er einen diffusen Zahnschmerz verspüren würde: nachdenklich und leicht gequält. Über dem Bois de Boulogne ziehen Wolken auf. Ihre Schatten legen sich auf das Gesicht Gehrys und tauchen die riesige Eingangshalle seines neusten Bauwerks in ein kunstvolles Chiaroscuro. Dann bricht wieder die Sonne durch. Das Gebäude, nach sechsjähriger Bauzeit erstmals zur Besichtigung freigegeben, erstrahlt in seinem stolzen Anspruch, dereinst als wei­teres Weltwunder in die Menschheitsgeschichte einzugehen. Wie eine gestrandete Riesenwolke liegt die Fondation Louis Vuitton im Gebüsch des von Marcel Proust besungenen Kinderspielgartens Jardin d’Acclimatation vor Paris. Der Besucher blinzelt – gibt es das wirklich? Oder ist es eine Fata Morgana, ein transparentes Gebirge aus Einbildung, Lichtbrechung und bewegter Luft? Der Schöpfer dieser Pracht selbst scheint skeptisch zu sein. Frank Gehry mag es nicht, wenn seine Projekte aufhören, Projekte zu sein. Wenn sie von der Realität eingeholt werden. Sozialist François Hollande dankt dem reichen Mäzen «Die ganze Welt schaut heute nach Paris», fährt der Eröffnungsredner ungerührt fort. An der staatstragenden Wortwahl erkennt man, dass der dezent gekleidete Grauhaarige – sein Name ist Jean-Paul Claverie – einst ein Berater des Kulturministers Jack Lang war. Jetzt flüstert er seine Ratschläge einem anderen Mächtigen ins Ohr: dem Luxusgüter-Magnaten Bernard Arnault. Um Arnault, dem reichsten Mann Frankreichs, den Privatmuseum-Trend schmackhaft zu machen, hat es wohl keiner grossen Überredungskünste bedurft. Nicht nur in Paris werden in den kommenden Monaten private Kunsttempel der Sonderklasse dem Pub­likum übergeben: Im spanischen Santander beendet Renzo Piano ein vom kürzlich verstorbenen Bankenmogul Emilio Botín bestelltes Kunstzentrum, in Los Angeles überwacht das Architektenpaar Diller Scofidio (bekannt für die Expo-Wolke in Yverdon) die Endarbeit am technologisch bahnbrechenden Museum des Sammlerpaars Eli und Edythe Broad. Dafür, dass Paris beim megalomanen Museum-Monopoly mitmachen kann, ist «La Grande Na­tion» dem Louis-Vuitton-Moët-Hennessy-Giganten Arnault dankbar. Und dem Architekten Gehry, dessen kunstvoll krumme Baudenkmäler seit Bilbao im Ruf einer Instant-Touristenattraktion stehen. An der VIP-Eröffnung am Montag findet der Sozialist François Hollande nur bewundernde Worte für den reichen Mäzen und den Millionenbau. Dass die in Edelmetall gehauenen Louis-V-Insignien und nicht Frankreichs Nationalfarben den Eingang schmücken, scheint niemanden zu stören. Alain Delon und die französische Kulturministerin Fleur Pellerin lassen sich zu Begeisterungsstürmen hinreissen. Der von Pierre Alféri, dem Sohn des Philosophen ­Jacques Derrida, verfasste und von Intellektuellen wie Giorgio Agamben und Georges Didi-Huberman mitunterzeichnete Protesttext «Ist Kunst nur ein Luxusprodukt?» ist an diesem Abend kein Thema. Wie komplex und gigantisch dieser Bau tatsächlich ist, merkt man erst auf einer der Terrassen. Hier schweift der Blick zum rie­sigen künstlichen Wasserfall vor dem Gebäude und wandert weiter zum Eiffelturm am Horizont. Eine optisch und körperlich schier überwältigende Menge von ineinander verschachtelten Glassegeln, Holzverstrebungen, Geländern und Passerellen lässt den Besucher ganz klein werden in diesem architektonischen Dschungel. Dass das Baubudget die kommunizierten 135 Millionen Euro bestimmt überschritten hat, sieht man von blossem Auge. Mit einer wahrhaft napoleonischen Geste hat die französische Regierung mehrere Gesetze ausser Kraft gesetzt, um das Vorhaben am Rande des Bois de Boulogne zu ermöglichen. Dafür übergibt der Mäzen in einem halben Jahrhundert das Bauwerk der Öffentlichkeit. Diese Kathedrale des Lichts soll sein Image aufpolieren Paris will sich just jetzt, trotz oder gerade wegen der Dauerkrise, seine Position als Hauptstadt der Künste mit aller Kraft zurückerobern. Anlässlich der Kunst­messe Fiac vergangene Woche wird nicht nur Gehrys Versailles-Ersatz aus der Taufe gehoben, sondern auch das fertig renovierte Musée Picasso in einem Haus aus dem 17. Jahrhundert in Marais und das Kulturzentrum Monnaie de Paris. Diesem gelingt mit seiner ersten Kunstausstellung sofort ein PR-Coup: Paul McCarthys an Sex­spielzeug erinnernde aufblasbare Skulp­tur fällt einem Vandalenakt zum Opfer. Auch solche Skandale gehören dazu – und Präsident Hollande verkündet fröhlich, dass Frankreich immer auf der Seite der Künstler stehe und auch er persönlich sich eins mit Paul McCarthy fühle (wobei man sich schon fragen muss, ob Monsieur le Président dessen radikal subversives Werk wirklich kennt). Doch all das löst Frank Gehrys Problem nicht. Mit seiner dekonstruktivistischen Architektur ist Gehry spät, erst nach seinem 50. Lebensjahr, als der grosse Überwinder des White-Cube, der minimalistisch strengen Museums­architektur angetreten. Mit dem Effekt, dass er, den mit Künstlern wie Cy Twombly, Ed Ruscha oder Ellsworth Kelly eine tiefe Freundschaft verbindet, nun als der In­begriff des kommerzialisierten Kunstbetriebs gilt. Genau diesem Image will er mit seinem Pariser Chef d’Œuvre, dieser Kathedrale aus Licht und Glas, entschieden entgegentreten. Ein Stöhnen und Ächzen auf den Brücken Doch dieses Gebäude, so wundersam es ist, scheitert an seinem überdimensionierten Anspruch. Anstatt wie eine Wolke gen Himmel zu streben, klammert es sich wie ein Käfer an den Boden. Da kann auch die künstlerische Direktorin Suzanne Pagé nicht helfen. Sie hat zwar einen dramatischen Sound­track zur Eröffnung in Auftrag gegeben: ein Werk des deutschen Experimentalkomponisten Florian Hecker. Wandert man auf den Brücken und Decks des Gehry-Schiffs, hört man ein Stöhnen und Ächzen – und fühlt sich an den Fliegenden Holländer oder den Kahn des untoten Piraten Jack Sparrow erinnert. Fondation Louis Vuitton, Bois de Boulogne, Paris, Metro: Les Sablons Fondation Louis Vuitton Bernard Arnault, 65, Multimilliardär, besitzt Taschen, Parfüms, Cognacs – und Kunst. Seine geheimnisumwitterte Sammlung bekommt mit dem Bau des prunkvollen Museums von Frank Gehry im Westen von Paris ein neues Zuhause. Welche Kunst hier dereinst ausgestellt wird, bleibt rätselhaft. Zur Eröffnung zeigt die künstlerische Direktorin Suzanne Pagé wenige Werke, darunter Installationen von Ellsworth Kelly, Olafur Eliasson, Thomas Schütte, Isa Genzken und Adrián Villar Rojas. Ausstellungen von Ed Atkins, Maurizio Cattelan und Mona Hatoum sollen folgen. About Ewa HessSwiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, ZürichView all posts by Ewa Hess » @askewa @PSPresseschau Wunderbares textlein 🍀 thx 4 sharing 08:10:37 PM Mai 30, 2023 von &s in Antwort auf PSPresseschau@GESDA Hackathon 4 the future – Open Quantum Institute in the making. Impressive! https://t.co/hWBdlsEFkd 09:35:19 AM Mai 07, 2023 von &s in Antwort auf GesdaIt’s my #Twitterversary! I have been on

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Warum, Frank Gehry?

Warum, Frank Gehry? Ewa Hess | 5. März 2015 – 11:26 Anlässlich der Eröffnung der Fondation durfte ich mit dem grossen Architekten ein kurzes Gespräch führen. Er war freundlich, doch leicht geistesabwesend. In den späteren Tagen zeigte er sich auch bedeutend stärker entnervt, wie das Bild zeigt… Frank Gehry, ist dieses Gebäude eine Hommage an Paris? Es ist kein Geheimnis, wie sehr ich Frankreich liebe. Ich lebte einst hier, ich trinke gerne französischen Wein. Ich wollte hier etwas machen, das ich noch nie ausprobiert habe. Es ist trotzdem ein unverkennbarer Gehry geworden. Was Sie sehen, ist nur der Anfang. Das Gebäude macht bei fast allem mit. Es wird sich mit Leben füllen. Hat Sie die Umgebung inspiriert? Im Bois de Boulogne ist die Natur wichtig, deshalb suchte ich eine Form, die flüchtig wirkt. Etwas, das sich mit Licht und Wolken verändert. Nehmen Menschen in Gebäuden wie diesem Kunst anders wahr? Ich höre da ein Misstrauen. Das kenne ich, denn viele Museumsdirektoren lieben meinen Stil nicht. Sie denken, nur ein strenger weisser Raum erlaube den unverfälschten Kunstgenuss. Und, stimmt es? Nein. Minimalismus ist kalt. Die Avantgarde hat sich damit in eine tote Ecke hineinmanövriert. Meine Bauten drücken Bewegung aus, das öffnet Möglichkeiten. Wie beurteilen Sie Ihren Erfolg? Ich schaue nie zurück. Ich gehe vorwärts. Nur ein neues Projekt bietet mir die kreative Unsicherheit, die ich brauche. About Ewa HessSwiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, ZürichView all posts by Ewa Hess » @askewa @PSPresseschau Wunderbares textlein 🍀 thx 4 sharing 08:10:37 PM Mai 30, 2023 von &s in Antwort auf PSPresseschau@GESDA Hackathon 4 the future – Open Quantum Institute in the making. Impressive! https://t.co/hWBdlsEFkd 09:35:19 AM Mai 07, 2023 von &s in Antwort auf GesdaIt’s my #Twitterversary! I have been on Twitter for 13 years, since 26 Nov 2009 (via @twi_age). 01:00:51 AM Dezember 13, 2022 von &s @askewa folgen Neueste Beiträge Baselitz‘ WeltI likePrivate Sales, ein SchattenspielAdieu John BergerTalk mit Jacqueline Burckhardt Blogroll FAQNews-BlogPop MattersRevue 21Support ForumWordPress-Planet Themen Ai Weiwei Amerika Andy Warhol Aphrodite Ascona Baron Heinrich Thyssen Basel Biennale Venedig Bird’s Nest Caravaggio China Fischli/Weiss Fondation Beyeler Frank Gehry Georg Baselitz Gerhard Richter Ghirlandaio Gstaad Gurlitt Gustav Klimt Harald Szeemann Keanu Reeves Kunst Kunstmuseum Basel Louise Bourgeois Maja Hoffmann Maria Lassnig Marlene Dumas Melinda Nadj Abonji Monte Verità Nachtkritik Oprah Winfrey Pipilotti Rist Schweizer Architektur Schweizer Film Schweizer Kunst Schweizer Literatur Shakespeare Simon de Pury Thomas Hirschhorn Ugo Rondinone Urs Fischer Valentin Carron Warhol Weltwoche Previous PostNext Post Schreibe einen Kommentar Cancel Reply Logged in as Ewa Hess. Edit your profile. Log out? Required fields are marked * Message*

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