Cohn-Bendits Dämonen
Cohn-Bendits Dämonen Ewa Hess | 18. Mai 2014 – 14:21 Im Hotel Castello del Sole in Ascona TI ist selbst die aufgeregte Stimmung eines Festivals kultiviert gedämpft. Die Sonne spiegelt sich im Lago Maggiore, internationale Literaten reisen an, um im Rahmen der Frühlingsveranstaltung «Eventi letterari» auf dem Monte Verità Ideen auszutauschen. In diese Umgebung scheint Daniel Cohn-Bendit nicht so recht zu passen. Mit dem schnellen Schritt eines Berufspolitikers betritt der «rote Dany» die Lobby. Die Haare des deutsch-französischen Doppelbürgers sind nicht mehr rot, doch der Blick hinter der runden Brille verrät ungebremste Neugierde und Debattierlust. Unser Treffen fällt mit seinem persönlichen Wendepunkt zusammen: Daniel Cohn-Bendit, 69, nimmt Abschied von der Politik. Nach 20 Jahren im Europaparlament als Vertreter abwechselnd der deutschen und der französischen Grünen setzt sich der ehemalige Rädelsführer des französischen Studentenaufstands von 1968 zur Ruhe. Nach Jahren des Pendelns zwischen Brüssel und Frankfurt und einer überstandenen Krebserkrankung will Cohn-Bendit nun mit Ingrid Apel, mit der er seit 1997 verheiratet ist und einen erwachsenen Sohn hat, das Leben geniessen. Er wohnt in Frankfurt mit befreundeten Paaren gleichen Alters in einer Hausgemeinschaft. Daniel Cohn-Bendit, Sie sprechen zum Thema «Politische Utopien und persönliche Dämonen». Was erwartet uns da? Utopien und Dämonen sind das Thema des Literaturfestivals hier in Ascona. Ein gut gewähltes Thema, denn Utopien rufen Dämonen auf den Plan. Inwiefern? Utopien können sich radikalisieren und verselbstständigen. Darin liegt etwas Dämonisches, weil Utopie dann zum Selbstzweck wird und den Menschen aus dem Blick verliert. Beispiel? Schauen Sie meine Laufbahn an. Zuerst gab es für mich Sozialutopien – den Traum von einer besseren Gesellschaft. Verbunden mit der Revolte in den 60er-Jahren, hatte ich eine antiautoritäre Utopie. Daraus folgend, gab es für mich die grüne Utopie, das heisst die Vision, dass man Politik auch anders machen kann. Dann die europäische Utopie. Die Ziele mussten stets neu verhandelt werden, damit sie nicht auf Abwege geraten. Abwege? Meinen Sie damit etwa den Terrorismus? Absolut. Der Versuchung der Radikalisierung bis zur Gewalt hin bin ich klar entgegengetreten. Durch das Diskutieren, das Gegeneinanderabwägen kann man Dämonen im Zaum halten. Sie haben aber immer provoziert. Führt Provokation nicht auch zu Gewalt? Nein. Die Provokation zielt nicht auf die Vernichtung des anderen, im Gegenteil, sie will sich mit ihm auseinandersetzen. In den 70ern war meine Lust am Provozieren aber so stark, dass sich diese Haltung verselbstständigt hat – zum Dämon wurde. Ich wollte immer noch eins draufsetzen. Etwa in der französischen Kultursendung «Apostrophe» von 1982. Sie sagen da, dass Sie ein Haschischbiskuit intus hätten und erzählen, wie Sie im antiautoritären Kindergarten mit Kindern Sexualität entdecken würden. Sehen Sie, nein! Sie schildern das falsch. Nicht wie ich, sondern wie die Kinder die Sexualität entdecken! Das ist nicht das Gleiche. In dieser Sendung erzähle ich, wie die Kinder ihre Sexualität entdecken, und mokiere mich über die Reaktionen der Erwachsenen darauf. Ähnliches beschrieben Sie 1975 in Ihrem Buch «Der Grosse Basar», das seit einigen Jahren unter Verdacht steht, pädophile Handlungen zu verherrlichen. Eines mal vorweg: Diese Passagen waren nicht so gemeint, wie sie heute interpretiert werden. Überhaupt, das ganze Buch war nicht so gemeint, es war auch nicht nur Provokation, es gibt darin Kapitel über jüdische Identität in Israel, ein Thema, das mich heute wieder beschäftigt. Das Buch hat übrigens, als es herauskam, niemanden provoziert, es war überhaupt kein Skandal. Inzwischen weiss die Gesellschaft aber viel mehr über den Missbrauch von Kindern. Es gab damals Opfer, Kinder, die nicht beschützt worden sind. Ja, das ist empörend und sehr traurig. Aber ein Teil der Öffentlichkeit geht in diese Auseinandersetzungen nicht mit der Haltung «Versuchen wir zu verstehen, was da wirklich war oder nicht war», sondern mit der Haltung «Jetzt müssen wir ganz klar ein Urteil sprechen». Mit scharfen Urteilen hat die Generation der 68er auch nicht gerade gegeizt. Das stimmt. Es kann schon sein, dass das jetzt eine Retourkutsche ist. Ein Urteil, das jedes Argument zum Schweigen bringt. Wie gehen Sie damit um? Es hatte mich am meisten getroffen, als ich den Theodor-Heuss- Preis letztes Jahr bekommen habe und es in Stuttgart eine Demonstration gegen mich gab. Es hiess, man könne diesen Preis für freiheitliche Gedanken nicht einem wie mir geben. Haben Sie das nicht erwartet? Nicht in dieser Heftigkeit. Da ging es nicht mehr um den Text, da sollte plötzlich bewiesen werden, dass er einer pädophilen Realität entspricht. Was aber nie bewiesen werden konnte, weil es da keine gab. Da gab es meinerseits weder Gelüste noch Taten. In der Schweiz wird bald über eine Initiative abgestimmt, die für Pädophile ein Berufsverbot für Arbeit mit Kindern fordert. Wie würden Sie stimmen? Wohl dafür. Grundsätzlich ist es richtig: Wenn jemand pädophil ist, soll er nicht mit Kindern arbeiten. Das Problem liegt aber woanders. Wo liegt es? Man konzentriert sich dadurch auf Pädophile, die man durch ein Berufsverbot von den Kindern fernhalten kann. Dabei geht die Tatsache vergessen, dass die Mehrheit der pädophilen Täter Familienangehörige sind: Onkel, Väter. Das reale Problem umreisst eine andere Frage: Darf jemand, der begründet der Pädophilie verdächtigt wird, Vater werden? Sie sagen: begründet. Heute wiegt auch ein unbegründeter Verdacht schwer. Das stimmt. Darum wollen etwa in Deutschland immer weniger junge Männer Grundschullehrer werden oder in Kindergärten arbeiten. Ein Schüler meiner Frau hat ein Praktikum im Kindergarten gemacht. Er war begeistert, und die Leiterin hat ihn toll gefunden, aber gesagt, dass sie in Zukunft keine Männer mehr einstelle. Warum? «Weil wir aufpassen müssen.» Wir leben in einer Verdachtsgesellschaft. Spontane Zärtlichkeit den Kindern gegenüber ist gefährlich geworden. «Du musst deine Freundin anders lieben», schrieben Sie in einer Schrift aus den 60er-Jahren. Was meinten Sie damit? Was weiss ich, was ich damals meinte. Aber heute vergisst man, wie verklemmt diese Gesellschaft damals war. In Frankreich brauchte eine verheiratete Frau die schriftliche Erlaubnis ihres Mannes, wenn sie ein Bankkonto eröffnen wollte. Bis 1973 war Homosexualität unter Strafe verboten. Es ging uns darum, ein offeneres Verhältnis zu Sexualität und Liebe zu entwickeln und nicht ein Herrschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau. Ihr eigenes Leben verläuft in Bahnen, die dem Ideal eines braven Bürgers entsprechen –
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